Tanz der Engel
mittendrin, zwischen den mächtigen Linden, herrschte Totenstille.
Mir wurde kalt. Ich schlang die Arme um meinen Körper, während Aron einen Korb hinter einem der Bäume hervorholte, aus dem er eine Thermoskanne und eine Decke zauberte, die er auf dem Boden ausbreitete. Offenbar hatte er geplant, mich hierherzubringen.
»Setz dich. Es wird eine Weile dauern.«
Ich folgte seiner Aufforderung und nahm auch den heißen Tee entgegen, den er mir einschenkte. Die Wärme tat gut, auch wenn ich mich zwingen musste, den Tee zu trinken.
»Als die Engel beschlossen, Racheengel zu erwählen, begrenzten sie ihre Anzahl auf eine überschaubare Zahl: sechs Engel – für jede Region einen – und einen weiteren, der Venedig beschützt, den Sitz des Rats der Engel. Gabriella war der zuständige Racheengel für die Lagunenstadt. Seit ihrem Tod wird ein Nachfolger gesucht. Es ist die Aufgabe der Engelskinder, ihn aufzuspüren. Jeder Mensch, der in seiner Kindheit auffällig wird, ist ein potentieller Kandidat. Doch nur in sehr wenigen ist sowohl die Engelsseele als auch das Dämonenerbe stark genug, um ein Racheengel zu werden.«
Aron sah mich mit seinen grauen Augen nachdenklich an – und ich begann zu ahnen, worauf er hinauswollte.
»Die Engelskinder träumen von ihnen, doch nur die wenigsten werden von ihren Traumgespinsten angezogen. Sobald sie sich begegnen, beginnen die Racheengel mit der Auswahl. Ihre Berührung weckt die verborgenen Dämonengene, die ein Racheengel braucht, um seine Aufgaben zu bewältigen. Aber erst der Kuss eines Racheengels aktiviert sie.«
Und ich wurde geküsst! Von Christopher, in seiner Engelsgestalt. Ein einziges Mal. Doch dieser Kuss war vollkommen. Er hatte mich tief berührt – samt meinem Dämonenerbe.
»Aber erst wenn der Zorn explodiert und der Dämonenanteil sich entlädt, ist der Wandel nicht mehr aufzuhalten.«
So wie bei mir.
»Racheengel sterben nicht, sie werden aus ihrer Wut geboren.«
Ich klammerte mich an den Tee, um ihm seine Wärme zu entziehen. Blind vor Wut hatte ich Aron angegriffen und den Dolch in seinen Körper gerammt. Ich war mir nicht sicher, ob ich weinen oder lachen sollte: Vielleicht war ich kein Dämon, sondern ein Engel. Allerdings ein Racheengel – von Engeln gefürchtet, von ihresgleichen gehasst.
Würde auch Christopher mich hassen, wenn mein Dämonenerbe an Stärke gewann? Tat er das schon?
Nein! Das konnte – wollte – ich nicht glauben. Er hatte meine Wunden geheilt und war erschienen, als Aron mich auf dem Balkon bedroht hatte – doch er war nicht geblieben. Gab es noch irgendetwas, worüber ich mir sicher sein konnte?
Mein Körper rebellierte, wollte die Last abschütteln, die mein Herz überschwemmte. Tränen versuchten durchzubrechen, schafften es aber nicht. Verzweifelt schluchzte ich in meinen Tee.
»Ich werde dir helfen, Lynn. Was auch immer in dir schlummert, ich bin da.« Schon zum zweiten Mal schenkte Aron mir Trost – und ich ließ es zu.
Aron lockerte seine strenge Überwachung und ließ mich in der Mensa essen – natürlich unter seiner Aufsicht. Christopher sah ich dort nur selten. Vielleicht weil Aron das so wollte, oder weil Christopher mir auswich. Schließlich gelang es mir, ihn abzupassen. Ohne den Umweg über die Essenausgabe zu nehmen, ließ ich Aron einfach stehen und lief direkt zu Christophers Tisch.
»Hi Chris.«
»Chris?! Seit wann nennst du mich Chris?«, fragte Christopher so unfreundlich, dass mir der Mut abhandenkam.
»Tun das nicht alle?«
»Die meisten«, antwortete er kurz angebunden, während ersein Besteck zusammenräumte, obwohl er seinen Teller kaum angerührt hatte.
Um ihn am Gehen zu hindern, hielt ich seinen Arm fest. Als Antwort betrachtete er mich mit einem undefinierbaren Blick.
»Christopher, bitte. Ich muss mit dir reden.«
»Tut mir leid, aber im Moment hab ich keine Zeit.«
»Aber für andere hast du sie?«
Christopher stand auf. In seinen Augen kämpfte etwas, das ich nicht deuten konnte. »Als Tutor muss ich das.«
»Und als … Freund?« Das Wort blieb mir beinahe im Hals stecken. Er war nicht mehr mein Freund – zumindest fühlte es sich nicht so an, wie es das sollte.
Christopher hielt mich mit seinem Tablett auf Abstand. Jadegrüne Blitze zuckten in seinen Augen. Die Wut, die in ihm tobte, traf mich mit geballter Wucht, als hätte er einen Schild entfernt. Sie umschloss mein Herz mit eiserner Faust. Ich schob den Schmerz beiseite – er musste warten.
Christopher setzte sich
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