Tanz der Engel
deine Freunde. Du streitest dich öfter, fährst schneller aus der Haut. Es ist dir egal, wie die anderen darauf reagieren – du fühlst dich im Recht und wartest, bis sie sich bei dir entschuldigen. Doch es wird schlimmer. Irgendwann verlierstdu die Beherrschung – so wie du bei Aron.« Christopher war vor mir stehen geblieben und sah mich traurig an. »Ich hätte dir nicht so leicht vergeben.«
»Aber du würdest.«
»Ja«, antwortete er.
Ich fühlte den Zwiespalt in Christopher: Er verachtete mich für meine Tat, war aber dennoch bereit, mir zu verzeihen – weil er mich liebte. Ich hätte meine Seele verkauft, wenn er mich in diesem Augenblick in die Arme genommen und geküsst hätte – doch das tat er nicht.
Stattdessen wandte er sich von mir ab und starrte Richtung See. Er sah sich selbst in mir, spürte seine eigene Verwandlung in jedem meiner Wutausbrüche und Eifersuchtsanfälle. Christopher wusste, was auf mich zukam. Er kannte den Schmerz und die Verzweiflung, wenn der Racheengel erwachte. Und obwohl er darunter litt, blieb er – meinetwegen. So lange, bis ich ihn freigab. Aber es würde nicht reichen, wenn ich ihn nur darum bat. Ich sollte es auch so meinen, damit er die Lüge nicht erkennen konnte.
Das einzige Gefühl, das ich mit Christopher und Wut in Zusammenhang brachte, war meine Eifersucht. Also zwang ich mich, sie heraufzubeschwören.
»Das unterscheidet uns voneinander«, begann ich.
Christophers Rückenmuskeln spannten sich an. Er bereitete sich auf einen Kampf vor – meine schneidende Stimme warnte ihn.
»Du hast mich zehn lange Wochen im Unklaren gelassen. Alle Welt wusste, dass du lieber in Venedig sein wolltest – nur ich nicht. War sie wenigstens hübsch – oder konntest du dich mal wieder nicht entscheiden?«
»Lynn!« Christophers Zurechtweisung ließ mich zusammenschrecken. Mit zu Schlitzen verengten Augen starrte er mich wütend an.
Ich wich ihm aus und begann zwischen den Linden auf und ab zu laufen. »Tu doch nicht so, als hättest du nicht bemerkt, wie die Mädchen auf dem Internat dir nachgelaufen sind! Oder kannst du dich etwa nicht mehr an Hannah erinnern?!«
Christopher schwieg, und ich fuhr fort. »Da du – dank meinem Blut – dich jetzt ja unter Menschenmädels umschauen kannst, die dich anhimmeln, anstatt sich vor dir zu fürchten, wäre es sicher lästig gewesen, mir zu sagen, wo du steckst. Schließlich ist Venedig ja nicht allzu weit von meinem Zuhause entfernt, so dass ich auf die dumme Idee hätte kommen können, dir deine Ferien zu vermiesen.«
Christopher ging nicht auf meinen Vorwurf ein. »Wie ich dir schon erklärt habe, hat mich der Engelsrat nach Venedig berufen.«
»Und weil du pausenlos beschäftigt warst, konntest du mir sicher auch keine Nachricht zukommen lassen: Zehn. Ganze. Wochen. Lang!« Ich schrie meinen Frust direkt in Christophers Gesicht.
Er wandte sich ab. Jetzt war er es, der unruhig zwischen den alten Linden auf und ab ging. »Sie hatten drei Kandidaten, die als Racheengel in Frage kamen. Alle drei haben versagt, weil …« Christopher sah mich an. Der Kummer in seinem Gesicht schnürte mir das Herz zusammen. »Weil ich schon einen ausgewählt hatte. Lynn. Es … es tut mir so leid.«
Wäre ich in diesem Augenblick auf ihn zugegangen, hätte ich bekommen, was ich wollte: Christopher hätte mich in seine Arme gezogen und wäre bei mir geblieben. Doch jedes Mal, wenn er mir in die Augen sehen oder mich berühren würde, würde er leiden.
»Für Reue ist es wohl ein bisschen zu spät! Aber wenn ich gewusst hätte, was der Kuss eines Racheengels auslösen kann, dann hätte ich dich niemals geküsst!«
Christopher schaute mich an, als würde ich ihm SanctifersDolch zwischen die Rippen stoßen. Doch der Dolch saß noch nicht tief genug, um ihn dauerhaft zu verletzen.
» Du hingegen wusstest genau, was du tust! Und im Gegensatz zu dir kann ich nicht das Schloss verlassen, damit ich den, der mir das angetan hat, nicht mehr ertragen muss!«
Ich machte auf dem Absatz kehrt. Noch länger in Christophers versteinertes Gesicht sehen zu müssen überstieg meine Kräfte. Seine Arme waren der einzige Ort, wo ich Halt gefunden hätte. Doch dieser Ort existierte nicht mehr – nicht für mich. Nur die Kammer im Schloss unterm Dach war mir geblieben. Ich hatte alles verloren: meine Freunde, mein Zuhause, Christopher – und mich selbst.
Kapitel 9
Schutzmauern
A ron saß auf der Mauer am Schloss und beobachtete mich. Ich lief an ihm
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