Tanz der Engel
vorbei, ohne aufzuschauen. Er hatte sein Ziel erreicht. Den Triumph, in meinen Augen zu sehen, wie verloren ich mich fühlte, gönnte ich ihm nicht.
Als es dunkel war, klopfte er an meine Zimmertür. Obwohl ich nicht antwortete, trat er ein, setzte sich in seinen Lieblingssessel und beobachtete eine Zeitlang, wie ich in den Himmel starrte, bevor er das Schweigen brach.
»Möchtest du reden?«
»Mit dir?!«, zickte ich ihn an. »Ich wüsste nicht, worüber.«
»Gut.« Aron nickte und stand auf. Vor der Tür drehte er sich noch einmal zu mir um. »Falls du es dir anders überlegst: Ich bin draußen. Klettere aufs Dach und ruf nach mir. Es ist gesichert, damit du nicht runterfallen kannst.« Also nicht von hier verschwinden, fügte ich in Gedanken hinzu, nachdem Aron die Tür hinter sich zugezogen hatte und ich den Schlüssel im Schloss klicken hörte.
Aron brachte mir wieder das Essen aufs Zimmer. Bei meinen Freigängen achtete er darauf, dass die Engelschüler in ihren Kursräumen in Sicherheit vor meinen Eifersuchts-, Wut- oder Dolchattacken waren. Nachdem ich seinen Rat befolgt und Christopher belogen hatte, brauchte es wohl keinen weiteren Impuls, um mich über die Kante zu treiben – und den Racheengel von mir weg.
Zum Glück schaffte ich es, meine Tiefs in die Phasen zu legen, in denen ich allein war. Also die vielen Stunden vor undnach den Mahlzeiten. Aron war sich sicher, dass ich mich nicht aus dem Staub machen konnte, und beaufsichtigte mich nur noch, während ich spazieren ging oder aß. Meist hockte er in seinem blauen Sessel und sah mir zu, wie ich in meinen Henkersmahlzeiten – diesmal Hühnchen mit Rahmnudeln – herumstocherte.
»Wenn du nicht willst, dass ich dich zwangsernähre, sollten die Reste auf deinem Teller kleiner werden.« Arons unerwartete Aufmerksamkeit ließ mich zusammenzucken. Meine unkontrollierte Reaktion ärgerte mich, weshalb ich meinen Frust an ihm ausließ.
»Warum solltest du dir so viel Mühe machen? Wäre es nicht die einfachste Lösung, mich verhungern zu lassen?«
»Eine ziemlich grausame. Findest du nicht?«
»Besser als lebenslange Einzelhaft.«
»Wenn das Lebenslang nur kurz ist«, entgegnete Aron mit einem Schulterzucken.
»Wie kurz?!«
»Das liegt an dir.«
Ich legte meine Gabel beiseite und wagte zum ersten Mal seit meiner verschärften Inhaftierung, Aron in die Augen zu sehen. Es lag eine ungewohnte Härte in ihnen und auch Zeichen von Müdigkeit. Ihm wäre es sicher lieber, wenn er das Ganze schnell zum Abschluss bringen könnte – mich zum Abschluss bringen könnte.
Traurigkeit stieg in mir auf. Seit ich Christopher den Rücken gekehrt hatte, war sie mein ständiger Begleiter. Zusammen mit der Hoffnung, dass er zu mir kommen, mich in die Arme nehmen und alles in Ordnung bringen würde, hielt sie die Wut zurück, die abends am stärksten war. Dann verfluchte ich Aron, der mich einsperrte, meine untreuen Engelsfreunde, die mich vergessen hatten – und Christopher. Einen nach dem anderen trafen meine Verwünschungen, Drohungen und detailliertenBeschreibungen, wie ich mich revanchieren würde. Doch immer wenn Christopher an die Reihe kam, versiegte mein Zorn. Die Furcht, ihn für immer verloren zu haben, ließ keinen Platz für Rachegefühle.
»Übrigens«, durchbrach Aron die Stille. »Du hast das Richtige getan.«
»Womit?«
»Meinen Rat zu befolgen. Christopher hat heute Morgen das Schloss verlassen.« Mit diesem einzigen Satz vernichtete Aron all meine Träume.
Kaum hatte er die Tür hinter sich zugesperrt, zerriss mich der Schmerz. Christopher war gegangen. Einfach so. Ohne ein letztes Wort. Ohne mir einen Funken Hoffnung dazulassen.
Dieses Mal gab es nichts, das die Wut aufhielt. Ich schrie, als sie in ihrer ganzen Wildheit aus mir herausbrach. Mit einer Macht, die mich fast erstickte, nahm sie von mir Besitz – und fühlte sich unglaublich gut an.
Mein Zorn stärkte mich. Er vertrieb den selbstmitleidigen Jammerlappen, der einer Vergangenheit nachtrauerte, die es nicht mehr gab, und dabei vergaß, sein Leben zu leben. Was machte ich hier? Wer gab Aron das Recht, mich einzusperren?! Der Engelsrat? Ich pfiff auf ihn. Sicher alles alte, verschrobene Tattergreise. Was wussten die schon von mir?
Trotzig packte ich meinen Schreibtischstuhl und schleuderte ihn gegen die Tür. Mit einem splitternden Geräusch brach er zusammen und zerfiel in seine Einzelteile. Die Tür blieb makellos. Der Schreibtisch kam als Nächstes dran. Wie einen Rammbock
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