Tanz der Hexen
Brücke über dem Wasser heranrückte, und sie war nicht sicher, ob sie auf die Schuhe warten sollte.
»Wenn sie geboren werden, wissen sie fast nichts«, hatte Vater gesagt. »Und was sie wissen, ist bald vergessen. Sie nehmen keine Witterung auf, sie sehen keine Ordnung. Sie wissen nicht mehr instinktiv, was sie essen sollen. Man kann sie vergiften. Sie hören keine Geräusche mehr, wie du sie hörst, und sie verstehen nicht den vollen Rhythmus der Lieder. Sie sind nicht wie wir. Sie sind Fragmente. Aus diesen Fragmenten werden wir bauen, aber für sie wird es der Untergang sein. Sei barmherzig.«
Wo war Vater? Wenn Vater die Sterne über Donnelaith betrachtet hatte, dann sollte sie, Emaleth, sie kennen und wissen, wie sie aussahen. Sie nahm nirgends auch nur die leiseste Spur seiner Witterung wahr. Auch an Mutter hatte nichts mehr davon gehangen.
Die Frau war wieder da. Sie legte die Schuhe hin. Es war schwer für Emaleth, die weichen Füße hineinzubekommen; sie wackelte mit den Zehen, und das Segeltuch kratzte an ihrer Haut, aber sie wußte, daß es so am besten war, mit Schuhen. Sie sollte Schuhe tragen. Vater trug Schuhe. Und Mutter hatte es auch getan. Emaleth hatte sich an einem scharfen Stein im Gras bereits in den Fuß geschnitten. So war es besser. Es fühlte sich gut an, als die Frau die Schnürsenkel zuband. Kleine Schleifen, wie hübsch. Sie lachte, als sie die Schleifen sah. Aber hübscher noch waren die Finger der Frau, als sie sie band.
»Good-bye, Lady. Und danke«, sagte Emaleth. »Sie waren sehr nett zu mir. Ich bedaure, was passieren wird.«
»Und was wird passieren, Kind?« fragte die Frau. »Was genau wird denn passieren? Kind, was ist das für ein Geruch? Was hast du am Körper? Erst dachte ich, du bist nur naß vom Bayou. Aber da ist noch ein Geruch.«
»Ein Geruch?«
»Ja, irgendwie gut, wie wenn was Gutes kocht.«
Ah, also hatte Emaleth den Duft auch. Konnte sie Vater deshalb nicht mehr riechen? Sie hob die Finger an die Nase. Da war er. Der Geruch kam geradewegs aus ihren Poren. Vaters Geruch.
»Ich weiß nicht«, sagte Emaleth. »Ich glaube, ich sollte diese Dinge wissen. Meine Kinder werden es wissen. Ich muß jetzt gehen. Ich sollte nach New Orleans gehen. Meine Mutter hat mich angefleht und angefleht. Geh nach New Orleans. Und Mutter sagt, es liegt auf dem Weg nach Schottland; ich brauche also nicht ungehorsam gegen Vater zu sein. Also mache ich mich jetzt auf den Weg.«
»Moment mal, Kind. Setz dich hin und warte, bis Jerome zurückkommt. Jerome sucht nach deiner Mutter.« Die Frau rief durch die Dunkelheit nach Jerome. Aber Jerome war verschwunden.
»Nein, Lady, ich gehe«, sagte Emaleth, und sie beugte sich nieder, legte der Frau leicht die Hände auf die Schultern und küßte sie auf die glatte braune Stirn. Sie fühlte ihr schwarzes Haar, sie roch es und strich der Lady dabei mit der Hand über die Wange. Eine nette Frau.
Sie konnte sehen, daß die Frau ihren Geruch mochte.
»Warte, Honey.«
Es war das erste Mal, daß Emaleth jemanden anderes als Mutter küßte, und es trieb ihr wieder die Tränen in die Augen; sie schaute auf die Frau mit den schwarzen Haaren und den großen Augen hinunter, und sie empfand Trauer darüber, daß sie alle sterben sollten. Freundliche Leute. Freundliche Leute. Aber die Erde war einfach nicht groß genug für sie, und sie hatten nur den Weg bereitet für die, die sanfter und kindlicher waren als sie.
»In welcher Richtung liegt New Orleans?« fragte sie. Mutter hatte es nicht gewußt. Vater hatte es nie gesagt.
»Na, da entlang, schätze ich«, sagte die Frau. »Ich weiß es nicht, um die Wahrheit zu sagen. Ich glaube, das da ist Osten. Aber du kannst nicht einfach…«
»Danke, mein Liebling«, sagte sie, wie Vater es gern zu ihr gesagt hatte. Und sie fing an zu gehen.
Es fühlte sich mit jedem Schritt besser an. Sie ging schneller und schneller, über das feuchte Gras und dann hinaus auf die Straße, unter das weiße elektrische Licht, und weiter und weiter, mit wehendem Haar und langen, schwingenden Armen.
Sie war jetzt ganz trocken unter den Kleidern, bis auf einen Rest Wasser auf dem Rücken, der ihr nicht gefiel, der aber bald weggetrocknet sein würde. Und ihr Haar. Ihr Haar trocknete rasch und wurde leichter und leichter. Sie sah ihren Schatten auf der Straße und lachte. Wie lang und dünn sie war, verglichen mit den braunen Leuten. Wie groß ihr Kopf. Selbst verglichen mit Mutter. Arme kleine Mutter, lag dort unter dem
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