Tanz der Hexen
so wie die Vögel ihre Nester bauen können, wie Giraffen gehen können, wie Schildkröten ins Meer kriechen und hinausschwimmen können, obwohl es ihnen niemand gezeigt hat. Denke daran, daß Menschen nicht mit diesem instinktiven Wissen zur Welt kommen. Wenn Menschen zur Welt kommen, sind sie nur halb fertig und hilflos, aber du wirst laufen und sprechen können. Du wirst alles erkennen.«
Na ja , nicht alles, dachte Emaleth, aber sie wußte, daß dort eine Uhr an der Wand hing und daß auf dem Fensterbrett ein Radio stand. Wenn man es einschaltete, kamen Stimmen heraus. Oder Musik.
»Wo ist deine Mutter, Kind?« fragte die Frau. »Sie ist krank, sagst du – wo denn?«
»Wie alt ist dieses Mädchen?« fragte der Mann seine Frau. Er stand stocksteif da und ballte die Fäuste. Er hatte seine Mütze aufgesetzt und funkelte sie an. »Wo ist diese Frau?«
»Woher soll ich wissen, wie alt sie ist? Sie sieht aus wie ein sehr großes kleines Mädchen. Honey, wie alt bist du? Wo ist deine Mutter?«
»Ich bin neugeboren«, sagte Emaleth. »Deshalb ist meine Mutter so krank. Es war nicht ihre Schuld. Sie hat keine Milch mehr. Sie ist todkrank, und sie riecht nach Tod. Aber es war genug Milch da. Ich gehöre nicht zum kleinen Volk. Das ist etwas, das ich nicht mehr zu fürchten brauche.« Sie drehte sich um und streckte den Zeigefinger aus. »Geht ein ganzes Stück, über die Brücke und unter dem Baum hindurch; sie ist dort, wo die Äste den Boden berühren, aber ich glaube nicht, daß sie je noch einmal sprechen wird. Sie wird träumen, bis sie stirbt.«
Der Mann lief zur Tür hinaus und schlug sie laut hinter sich zu. Mit äußerst entschlossener Haltung marschierte er über die Wiese und fing dann an zu rennen.
Die Frau starrte sie an.
Emaleth drückte die Hände auf die Ohren, aber es war zu spät: Die durchscheinende Tür hatte einen so lauten Schlag getan, daß es in ihren Ohren klang, und das war nicht mehr abzustellen. Das Klingen mußte von allein vergehen. Durchscheinend, die Tür. Nicht aus Glas. Über Glas wußte sie Bescheid. Die Flasche auf dem Tisch war aus Glas. Sie erinnerte sich an Glasfenster und Glasperlen, an viele Dinge aus Glas. Plastik. Die durchscheinende Tür war aus Drahtgitter und Plastik.
Sie schaute die Frau an. Sie wollte die Frau um Essen bitten, aber es war jetzt wichtiger, von hier fortzugehen – Vater zu finden, oder Donnelaith, oder Michael in New Orleans, was immer das leichtere wäre. Sie hatte zu den Sternen geschaut, aber sie hatten ihr nichts gesagt. Vater hatte gesagt, du wirst es von den Sternen erfahren. Nun, in dieser Hinsicht war sie nun nicht mehr so sicher.
Sie drehte sich um und öffnete die Tür und ging hinaus; sie achtete darauf, daß die Tür nicht laut zuschlug, und hielt sie der Frau auf. All die Baumfrösche sangen. All die Grillen sangen. Dinge sangen da, deren Namen niemand wußte, nicht einmal Vater. Sie raschelten und klapperten im Dunkeln. Die ganze Nacht war lebendig. Sieh nur die winzigen Insekten, die da unter der Glühbirne schwimmen! Sie wedelte mit der Hand hindurch. Wie sie da auseinander stoben – nur um gleich wieder zu einer dichten kleinen Wolke zusammenzufließen.
Sie schaute zu den Sternen hinauf. Sie würde sich immer an dieses Muster der Sterne erinnern, ganz sicher: wie die Sterne sich zu den fernen Bäumen heruntersenkten und wie schwarz der Himmel an der einen Stelle aussah und wie blau an der anderen. Ja, und der Mond. Sieh nur den Mond! Den wunderschön strahlenden Mond. Vater, endlich sehe ich ihn. Ja, aber um nach Donnelaith zu kommen, mußte sie wissen, wie die Sterne aussehen würden, wenn sie ihr Ziel erreicht hätte.
Die Frau nahm Emaleth bei der Hand. Dann schaute die Frau ihre Hand an und ließ sie wieder los.
»Du bist so weich!« sagte sie. »Du bist so weich und rosig wie ein kleines Baby.«
»Sag ihnen nicht, daß du neugeboren bist«, hatte Vater gesagt. »Und sag ihnen nicht, daß sie bald sterben werden. Hab Mitleid mit ihnen. Es ist ihre letzte Stunde.«
»Danke«, sagte Emaleth. »Ich gehe jetzt. Ich gehe nach Schottland oder nach New Orleans. Kennst du den Weg?«
»Na, New Orleans ist kein großes Problem«, sagte die Frau. »Bei Schottland weiß ich’s nicht. Aber du kannst nicht einfach so barfuß losspazieren. Ich hole dir Bubbys Schuhe. Gott, ja, Bubbys Schuhe sind die einzigen, die dir vielleicht passen.«
Emaleth schaute über die dunkle Wiese zum Wald hinüber. Sie sah, wie die Dunkelheit hinter der
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