Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
ich könnte es nicht.
    Sie kamen und sie gingen. Evelyn wurde zurückgebracht, begleitet von Carlotta und Cortland, die für sie sprechen sollten. Das sagte man mir wenigstens.
    Nur Richards Weinen brach mir das Herz. Ich zog mich davor zurück, tief in mich selbst, wo ich das Gedicht hören und die Verse sprechen konnte; doch vergebens bemühte ich mich, sie zu deuten.
     
    Laßt den Teufel nur erzählen,
    Laßt ihn wecken Engelsmacht…
     
    Aber was sagte mir das? Schließlich klammerte ich mich an die letzte Strophe. Denn sonst kennt Eden nie mehr Frühling.
    Wir waren der Frühling, wir Mayfairs, das wußte ich. Eden war unsere Welt. Wir waren der Frühling, und das schlichte Wort »sonst« bedeutete, daß es Hoffnung gab. Irgendwie waren wir zu retten. Irgend etwas konnte das Jammertal verhindern!
     
    Schmerz und Leiden, da sie noch stolpern,
    Blut und Angst, eh sie noch gelernt.
     
    Ja, es lag Hoffnung in dem Gedicht, ein Sinn, auch darin, es weiterzusagen! Aber würde ich es erleben, daß seine Worte Erfüllung fanden? Und nichts erweckte solches Grauen in mir wie der Satz: »Erschlagt das Fleisch, das ist nicht menschlich.« Denn wenn dieses Ding kein Mensch war, welche Macht hatte es dann? Wenn es bloß St. Ashlar war – aber so sah es nicht aus! Würde es ein Mensch werden, wenn es wiedergeboren würde? Oder Schlimmeres?
    »Erschlagt das Fleisch, das ist nicht menschlich!«
    Ach, wie plagte ich mich damit. Wie waren meine Gedanken davon besessen. Manchmal hatte ich nichts anderes im Sinn als die Worte des Gedichts und fiebrige Bilder.
    Schließlich verlor ich die Besinnung. Tage vergingen. Der Arzt kam. Endlich richtete ich mich auf und fing an zu reden, damit der Trottel mich in Ruhe ließ. Seit meiner Kindheit hatte die Wissenschaft große Fortschritte gemacht, aber das hinderte diesen Holzkopf nicht daran, an meinem Bett zu stehen und meinen Lieben zu erzählen, ich litte an einer »Verhärtung der Arterien« und »seniler Demenz« und könne nicht verstehen, was sie sagten.
    Es war ein absoluter Hochgenuß, aufzustehen und ihn des Zimmers zu verweisen.
    Auch wollte ich wieder umhergehen. Ich habe nie gern einfach nur dagelegen, und dies war meine schlimmste Stunde gewesen; sie war zu Ende, und ich lebte noch.
    Richard half mir beim Ankleiden, und ich stieg ganz hinunter ins Erdgeschoß, um mit meiner Familie zu Abend zu essen. Ich saß am Kopfende der Tafel und verspeiste unter großem Getue mein Gumbo, das Brathuhn und ein boeuf daube oder irgendeine andere Albernheit, nur damit sie mich in Ruhe ließen. Ich weigerte mich, Cortland anzusehen, der immer wieder versuchte, mit mir zu reden. Ich sorgte weiß Gott dafür, daß ihm elend zumute war, dem armen Lieblingsjungen!
    Die Verwandtschaft plapperte. Mary Beth redete mit ihrem betrunkenen Ehemann Daniel McIntyre über praktische Dinge; der arme alte Knabe war inzwischen so krank, daß er nur noch ein Schatten des prachtvollen Mannes war, der er einst gewesen war. Das haben wir aus ihm gemacht, dachte ich.
    Nacht für Nacht lag ich im Dunkeln und dachte: Was ist, wenn ich irgendwie zurückkommen könnte? Was ist, wenn ich irgendwie an die Erde gebunden bleiben könnte, wie dieses Wesen es doch auch ist?
    Denn schließlich – wenn es doch Ashlar ist, einer der vielen Ashlars, ein Heiliger, ein König, ein rachsüchtiger Geist, ein bloßer Mensch –! Das Bett bebte. Ich dachte wieder an diesen Vers… das Fleisch, das ist nicht menschlich…
    »Bist du gekommen, um mich zu stören oder um mich zu beruhigen?« fragte ich.
    »Stirb in Frieden, Julien«, sagte er. »Ich wollte dir meine Geheimnisse am ersten Tag anvertrauen, als ich mit dir in dieses Haus kam. Ich habe dir damals gesagt, daß ein solcher Ort dich aus der Ewigkeit zurückholen kann und daß er so ist wie die Burgen aus alter Zeit. Präge dir seine Muster ein, Julien, seine anmutigen Säulen. Und durch den Nebel wirst du sie sehen, ganz deutlich. Aber damals wolltest du meine Lektionen nicht hören. Willst du sie jetzt? Ich kenne dich. Du lebst. Vom Tod wolltest du nichts hören.«
    »Ich glaube nicht, daß du etwas vom Tod weißt«, sagte ich. »Du weißt etwas vom Wollen und vom Spuken und vom Leben! Aber nicht vom Tod.«
    Ich kam aus dem Bett. Ich zog das Victrola auf, um das Wesen zu vertreiben. »Ja, ich will zurückkommen«, wisperte ich, »ich will zurückkommen. Ich will auf der Erde bleiben, hier, als Teil dieses Hauses. Aber, Gott, ich schwöre dir aus meiner tiefsten Seele, es

Weitere Kostenlose Bücher