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Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Tanten.
    Mein Vater schärfte mir noch einmal ein, still zu sein. Ich erregte Aufmerksamkeit. Die Leute fragten sich: »Wer ist dieser hochgewachsene junge Mann?« Mein Bart war inzwischen kräftig und dunkelbraun gewachsen. Auch mein Haar war lang geworden.
    Staunend sah ich zu, wie alle Gäste Platz nahmen und wie sich der große Chor der Mönche auf den steinernen Treppenstufen aufstellte – lauter Männer mit Tonsur, was bedeutete, daß sie alle nur noch einen Haarkranz über den Ohren hatten. Sie trugen weiße Kutten. Sie begannen zu singen; ihr Gesang war frohlockend und doch voller Trauer und Schönheit. Und diese Musik, muß ich sagen, brach mit solcher Wucht über mich herein, daß ich davon wie berauscht war; sie traf mich wie ein Pfeil ins Herz, und einen Moment lang konnte ich nicht atmen.
    Ich wußte, was um mich herum geschah. Der mächtige gebratene Eberkopf war aufgetragen worden, umgeben von Grün und goldenem und silbernem Zierrat, Kerzen und hölzernen Äpfeln, die so bemalt waren, daß sie wie echte aussahen.
    Und Küchenjungen schleppten die Wildschweine zum Essen herein; sie steckten auf den Spießen, an denen man sie gebraten hatte, und wurden auf Seitentischen abgesetzt, wo man das dampfende Fleisch aufschnitt.
    Ich sah das alles, hörte es. Aber im Geiste war ich hingerissen von der traurigen Musik der Mönche. Ein entzückendes gälisches Weihnachtslied erklang aus zwanzig oder dreißig sanften Mündern.
     
    Welch Kind liegt da in stillem Schlaf
    Wohl in Mariens Armen…
     
    Ihr kennt das Lied; es ist so alt wie das Weihnachtsfest in Irland oder Schottland. Und wenn ihr euch seine Melodie in Erinnerung rufen könnt, dann könnt ihr vielleicht ein wenig von dem begreifen, was dieser Augenblick für mich bedeutete, als mein Herz mit den Mönchen dort auf der Treppe sang und der ganze Saal hinter diesem Lied zurücktrat.
    Mir war, als erinnerte ich mich in diesem Moment an die Seligkeit, die ich im Leib meiner Mutter gekannt hatte. Oder stammte sie aus einer anderen Zeit? Ich weiß es nicht, aber das Gefühl war so voll und tief empfunden, daß es nicht ganz neu sein konnte. Es war keine panische Erregung. Es war reine Freude. Ich erinnerte mich an das Tanzen, streckte in der Erinnerung die Hände aus, um andere Hände zu ergreifen. Und doch erschien mir dieser Augenblick kostbar und teuer, als hätte ich vor langer Zeit einmal einen hohen Preis dafür bezahlt.
    Die Musik war zu Ende, wie sie begonnen hatte. Die Mönche bekamen Wein. Sie gingen hinaus. Um mich herum erhob sich munteres Treiben und fröhliches Stimmengewirr.
    Aber jetzt war der Laird von seinem Platz aufgestanden und hatte einen Trinkspruch ausgebracht. Wein wurde ausgeschenkt, und alle begannen zu essen. Aus den großen Käserädern wählte mein Vater Stücke für mich aus und ermahnte mich, sie zu essen wie ein Mann. Er ließ auch Milch für mich bringen, und niemand in der geschäftigen Gesellschaft nahm davon Notiz. Es wurde viel geredet und gelacht, und unter den jüngeren Männern brach sogar ein wilder Ringkampf aus.
    Aber ich sah, daß mich im Laufe der Zeit mehr und mehr Leute musterten. Sie warfen Blicke in meine Richtung und tuschelten mit ihren Tischnachbarn; manche deuteten sogar mit dem Finger auf mich oder beugten sich vor, um meinen Vater zu fragen: »Wer ist das, den du da zum Essen mitgebracht hast?«
    Jedesmal schien plötzlich ausbrechendes Geplapper oder Gelächter ihn an einer Antwort zu hindern. Ohne Begeisterung aß er sein Fleisch. Besorgt schaute er sich um, und dann plötzlich sprang er auf und hob seinen Becher. Bei seinen langen braunen Zottelhaaren und dem Bart konnte ich sein Profil kaum erkennen, aber ich hörte seine Stimme, die laut und dröhnend alles übertönte.
    »Meinem geliebten Vater und meiner Mutter, meinen Ältesten und meiner Sippe präsentiere ich diesen Knaben – Ashlar, meinen Sohn!«
    Es war, als erhebe sich ein Jubelschrei, ein mächtiges, furchterregendes Gebrüll, das jäh zu starrem Schweigen erstickte, gefolgt von einer Welle von Getuschel und Gezische. Die ganze Gesellschaft schwieg, und alle Blicke richteten sich auf meinen Vater und auf mich. Er streckte die rechte Hand zu mir herunter, tastete gleichsam nach mir, und als ich mich erhob, wie er es offensichtlich wünschte, überragte ich ihn, obwohl er so groß wie alle anderen Männer war.
    Wieder erhob sich erschrockenes Zischen und Tuscheln. Eine Frau schrie. Der Laird selbst schaute mit funkelnden blauen Augen

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