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Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Christus, der für unsere Sünden gestorben sei. Dann deutete er auf das blutige Kruzifix, das rechts an der hohen Säule hing. Ich sah den Mann dort, sah das Blut, das von Seinen Händen und Füßen herabströmte. Der gekreuzigte Christus. Der Gott am Holze. Diese Worte gingen mir durch den Sinn. Und ich wußte, daß das Kind und der Christus eins waren. Wieder hörte ich ferne Schreie in meiner Erinnerung, wie von einem Massaker.
    Die Musik führte alles zusammen. Ich hatte wirklich das Gefühl, ich würde gleich in Ohnmacht fallen. Vielleicht war der Schleier in diesem Augenblick kurz davor, sich zu heben, und dann hätte ich hindurchschauen und die Vergangenheit sehen können. Ah, aber es sollten noch andere, schmerzhaftere Augenblicke kommen, und doch wurde mir nie viel offenbart.
    Ich betrachtete das Kruzifix, und mich schauderte bei dem Gedanken an einen so entsetzlichen Tod. Es kam mir monströs vor, daß jemand ein so strahlendes Kind hatte schaffen sollen, nur damit es einen solchen Tod erleide. Dann aber wurde mir klar, daß alle Menschen zum Tode geschaffen waren. Alle wurden als kleine, zappelnde Unschuldige geboren und lernten zu leben, bevor sie wußten, was das bedeutete. Ich kniete nieder und küßte das harte Steinkind, das über und über bemalt war, damit es weich und echt aussah. Ich betrachtete die steinernen Gesichter des Mannes und der Frau. Ich schaute wieder den Priester an.
    Die Musik war verhallt; nur ein tosendes Wispern und Husten schallte von der Bogendecke zurück.
    »Komm jetzt, Ashlar«, sagte der Priester. Er führte mich eilig durch die Menge; offenbar wollte er keine Aufmerksamkeit erregen. Wir gingen in eine Seitenkapelle. Ein steter Strom von Gläubigen kam in diese Kapelle; jeweils zwei erhielten nacheinander Einlaß. Andere Mönche in ihren Kutten standen Wache, und der Priester bat sie nun, die Kapelle abzusperren und die ändern bitte geduldig warten zu lassen.
    Der Laird wolle sein Nachtgebet zum Hl. Ashlar sprechen. Das weckte keinen Widerwillen, sondern erschien normal. Diejenigen, die warten mußten, fielen auf die Knie und beteten ihren Rosenkranz.
    Wir standen allein in der Steinkapelle, deren Wände halb so hoch waren wie die des Mittelschiffs. Aber wie großartig wirkte sie dennoch – ein schmaler, heiliger Ort. Reihen von Kerzen brannten unter den Fenstern. Ein großer Sarkophag mit einem in Stein gehauenen Bildnis stand in der Mitte; ja, um eben diesen langen, rechteckigen Steinkasten hatten sich die vielen versammelt, sie hatten dort gebetet und dem steinernen Mannesbild Kußhände aufgedrückt.
    »Schau her, mein Junge«, sagte der Priester und wies nicht etwa auf das Steinbild, sondern auf das nach Westen gerichtete Fenster. Das Glas war nachtschwarz, aber ich konnte die Gestalt, die darin abgebildet war, mühelos an den Bleinähten erkennen, die jede einzelne Glasscheibe umgaben. Meine Augen erblickten einen hochgewachsenen Mann in langen Gewändern und mit einer Krone auf dem Kopf. Ich sah, daß seine Gestalt die anderen Figuren neben ihm überragte. Sein Haar war lang und voll wie meines, und sein Bart hatte eine ganz ähnliche Form.
    Lateinische Worte waren auf das Glas geschrieben, drei Strophen davon, die ich zunächst nicht verstand.
    Aber der Priester ging zur Wand, deutete mit ausgestrecktem Arm zu den Worten hinauf – sie standen hoch über seinem Kopf – und übersetzte sie mir aus dem Lateinischen ins Englische, so daß ihre Bedeutung mir ganz und vollständig einleuchtete:
     
    St. Ashlar, Geliebter des Herrn Christus
    Und der Heiligen Jungfrau Maria,
    Der da wiederkommen wird.
     
    Heile die Kranken,
    Tröste die Leidenden,
    Lindere die Schmerzen
    Derer, die sterben müssen.
     
    Errette uns
    Vor der immerwährenden Dunkelheit.
    Vertreibe die Dämonen aus dem den
    Und sei unser Führer
    Zum Licht.
     
    Meine Seele war erfüllt von Ehrfurcht. In der Ferne begann die Musik von neuem, jubilierend wie zuvor. Ich wollte ihr widerstehen und mich nicht davon überwältigen lassen, aber ich konnte es nicht verhindern; der Bann der lateinischen Worte verflog, und ich wurde hinausgeführt.
    Wenig später hatten wir uns im Zimmer des Priesters in der Sakristei der Kathedrale versammelt, und er setzte sich mit uns an den Tisch. Die Kammer war klein und warm, ganz anders als jede, die ich bisher gesehen hatte, und mir kam sie sehr behaglich vor.
    Ich streckte meine Hände zum Feuer und erinnerte mich dann, daß der Laird mich hatte verbrennen wollen. Sofort

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