Tanz der Hexen
Augenblicke später hatten wir das Schloß hinter uns gelassen und gingen geradewegs zu einem gedeckten Boot hinunter, das uns auf dem dunklen Wasser der Themse erwartete. Als wir die Themse erreicht hatten, wurde mir klar, daß ich mich nicht von meiner Mutter verabschiedet hatte, und die Trauer überwältigte mich, ein Gefühl jähen Entsetzens darüber, daß ich an diesen besonders trostlosen und tückischen Ort und in eine unerklärliche Zeit geboren worden war. Mein Kampf sollte wieder ganz von vorn beginnen. Ich weiß noch, in diesem Augenblick wäre ich gestorben, wenn ich es gekonnt hätte; ich hätte den Rückzug angetreten. Ich starrte auf das Wasser hinunter, das stank vom Unrat Londons, dem Unrat Tausender, und in dieser Dunkelheit wollte ich sterben. Ja, im Nebel meines Geistes sah ich einen dunklen Tunnel, durch den ich herabgekommen war, und ich wollte wieder hinein. Ich fing an zu weinen.
Mein Vater legte den Arm um mich. »Weine nicht, Ashlar«, sagte er. »Es ist das Werk Gottes.«
»Wieso das Werk Gottes? Meine Mutter könnte auf den Scheiterhaufen kommen!« Schon dürstete mich nach ihrer Milch. Ihre Milch wollte ich, und es erbitterte mich, daß ich nicht mehr davon genommen hatte, bevor ich geflohen war. Und der Gedanke, daß jemand dieses Fleisch von meinem Fleisch, meine Mutter, den Flammen überantworten könnte, kam mir frevelhaft vor, und es zu verhindern schien mir den Einsatz meines Lebens wert.
Es ist meine Geburt, von der ich euch hier erzähle. Es ist eine Abfolge von Stunden, erlebt bei Kerzenschein und nie vergessen, solange ich im Fleische war. Es ist das, was ich auch jetzt wieder lebhaft in Erinnerung habe, da ich wieder im Fleische bin. Aber den Namen Ashlar kannte ich nicht. Ich weiß auch jetzt nicht und werde niemals wissen, wer Ashlar in Wirklichkeit war – wie ihr noch sehen werdet.
Hört mir gut zu. Und begreift es. Begreift es ganz und gar. Ich weiß nichts über den ursprünglichen Heiligen.
Später sollte ich Dinge sehen. Ich sollte Geschichten hören. Ich sollte St. Ashlar sehen, im Buntglasfenster der großen Hochlandkathedrale von Donnelaith. Und ich sollte erfahren, daß ich er, daß ich »wiedergekommen« sei.
Aber was ich euch jetzt erzähle, ist das, woran ich mich erinnere. Das, was ich wußte!
Wir brauchten viele Tage und Nächte, um nach Schottland zu kommen.
Es war mitten im Winter, genau gesagt, in den ersten Tagen nach Weihnachten, wenn die Bauern von der schlimmsten Angst gepackt werden und wenn sie glauben, daß Geister umhergehen und Hexen ihre bösen Werke tun.
Wir schliefen nur unruhig in kleinen Dorfgasthöfen, wann immer wir eines fanden, zumeist im Heu mit anderen, oft angeekelt und geplagt von Ungeziefer. Immer wieder hielten wir an, damit ich Milch bekam. Ich trank sie warm von der Kuh; sie war gut, aber nicht so süß wie die Milch meiner Mutter. Den Käse aß ich händeweise. Er war rein.
Wir reisten zu Pferde, in schwere Wolle und Pelze gehüllt, und die meiste Zeit während der Reise starrte ich in stummer Verwunderung auf das Schneegestöber; ich bestaunte die Felder, durch die wir ritten, die kleinen Dörfer, in denen wir Obdach suchten, und die weitverstreuten strohgedeckten Hütten. Sie feierten Feste in den Wäldern; Feuer brannten, und Männer in Tierhäuten tanzten. Angst ergriff die, die in den Häusern blieben.
»Schau«, sagte mein Vater, »die Ruinen des großen Klosters. Dort auf dem Berg. Eine Abtei, erbaut zur Zeit des Hl. Augustinus. Vom König niedergebrannt. Das waren Tage des Grauens für alle Christenmenschen. Alles wurde geraubt. Die Nonnen vertrieben. Die Priester vertrieben. Die Statuen verbrannt, die Fenster zerschlagen, und die Kreuzgänge wurden ein Unterschlupf für die Feldratten und die Armen. Alles ist dahin, zerstört. Und wenn man bedenkt, daß es der Wille eines einzigen Mannes war. Ashlar, dies ist der Grund, weshalb du gekommen bist.«
Ich hatte daran große Zweifel. Ja, es ängstigte mich sogar, daß mein Vater so etwas dachte, daß er seinem Glauben in so schlichten Begriffen Ausdruck geben konnte. Es war, als wüßte ich es anders, und dieses Gefühl, es anders zu wissen, war nur das, was ihr wohl Ungläubigkeit nennt. Ich empfand tiefverwurzelten Zweifel, ein angeborenes Gefühl, daß mein Vater fehlgeleitet war und Träumen nachhing. Aber warum – das konnte ich nicht wissen.
Wieder sah ich die Kreise vor mir, die vielen, immer größer werdenden Kreise der tanzenden Gestalten. Ich versuchte
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