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Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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zog ich sie zurück und schob sie unter meinen Samtmantel.
    »Was ist dieses Ding – Taltos?« fragte ich und wandte mich unversehens den dreien zu, die mich stumm anstarrten. »Wie nennt ihr mich da? Und wer ist Ashlar, der Heilige, der wiederkommt?«
    Bei dieser letzten Frage schloß mein Vater die Augen in ernster Enttäuschung und senkte den Kopf. Sein Vater wiederum war ganz wild vor rechtschaffenem Zorn; der Priester indessen schaute mich nur weiter an, als sei ich vom Himmel herabgestiegen. Er war es, der schließlich sprach.
    »Du bist es, mein Sohn«, sagte er. »Du bist Ashlar, denn es war Gottes Geschenk an Ashlar, daß er mehr als einmal Fleisch sein sollte, ja, daß er wieder und wieder in die Welt kommen sollte, zum Ruhm und Ehre seines Schöpfers. Diese Befreiung von den Gesetzen der Natur ward ihm gewährt wie der Jungfrau, die in den Himmel aufgenommen, wie dem Propheten Elias, der mit Leib und Seele in den Himmel gehoben ward. Gott hat dafür gesorgt, daß du mehr als einmal deinen Weg in die Welt findest – durch den Schoß eines Weibes, vielleicht sogar durch die Sünde eines Weibes.«
    »Aye, das steht fest!« bekräftigte der Laird düster. »Wenn es nicht von den kleinen Leuten kam, dann mußte es durch die Sünde einer Hexe und ein Kind unseres Clans geschehen!«
    Mein Vater war erschrocken und beschämt zugleich. Ich sah den Priester an. Ich wollte ihm von meiner Mutter erzählen, von dem sechsten Finger an ihrer linken Hand, und wie sie ihn mir gezeigt und dabei gesagt hatte, es sei ein Hexenfinger – aber ich wagte es nicht. Ich wußte, daß der alte Laird mich vernichten wollte. Ich fühlte seinen Haß, und der war schlimmer als die furchtbarste, bitterste Kälte.
    »Das Zeichen Gottes lag auf der Geburt, ich sage es euch«, erklärte der große Laird. »Mein verdammter Sohn hat geschafft, was all die kleinen Leute in den Bergen seit Hunderten von Jahren nicht vermocht haben.«
    »Hast du die Eichel vom Baume fallen sehen?« fragte der Priester. »Woher weißt du, daß dies ein Wechselbalg ist und nicht ein Sproß von unserer Art? Woher?«
    »Sie hatte den sechsten Finger«, wisperte mein Vater.
    »Und du hast bei ihr gelegen?« fragte der Laird.
    Mein Vater nickte: Ja, das habe er getan. Sie sei eine hohe Dame, sagte er leise, und er könne ihren Namen nicht nennen, aber sie sei groß genug, um ihm angst zu machen.
    »Niemand darf davon hören«, sagte der Priester. »Niemand darf wissen, was stattgefunden hat. Ich will diesen gesegneten Knaben in meine Obhut nehmen und dafür sorgen, daß er der Jungfrau geweiht wird und daß er niemals das Fleisch eines Weibes berührt.«
    Er brachte mich in eine warme Kammer, wo ich die Nacht verbringen sollte. Er verriegelte die Tür. Es gab nur ein winziges Fenster. Kalte Luft kroch herein, aber ich sah auch ein kleines Stück Himmel und ein paar sehr kleine und helle Sterne.
    Was hatten alle diese Worte zu bedeuten? Ich wußte es nicht. Als ich mich auf das Bett stellte und aus dem Fenster spähte, als ich den dunklen Wald und die zerklüfteten Umrisse der Berge sah, da bekam ich Angst. Und mir war, als könne ich die kleinen Leute kommen sehen; mir war, als könne ich sie hören. Ich konnte ihre Trommeln hören. Sie würden ihre Trommeln benutzen, um den Taltos starr und hilflos zu machen und ihn dann zu umzingeln. Mach uns einen Riesen, mach uns eine Riesin; mach ein Volk, das die Menschen bestrafen und sie von der Erde fegen wird. Einer von ihnen würde die Mauer hochklettern und das Gitter vor dem Fenster aufstemmen, und dann würden sie hereinkommen…!
    Ich ließ mich zurückfallen. Aber als ich wieder hochschaute, sah ich, daß die Gitterstäbe sicher waren. Es war alles Einbildung gewesen.
    Hier war ich sicher.
    Es muß eine Stunde vor Tagesanbruch gewesen sein, als der Priester mich rief. Nach allem, was ich wußte, war es die Hexenstunde, denn eine Glocke läutete, ominös und endlos, und als ich aufwachte, wußte ich, ich hatte diese Glocke im Schlaf gehört, wie einen Hammer, der auf einen Amboß fiel, wieder und wieder.
    Der Priester rüttelte meine Schulter. »Komm mit mir, Ashlar«, sagte er.
    Ich sah die Befestigungsanlagen der Stadt. Ich sah die Fackeln der Wache. Ich sah den schwarzen Himmel über uns und die Sterne. Der Schnee lag noch auf dem Boden. Wieder und wieder schlug die Glocke, und der Klang durchrasselte mich, schüttelte mich, daß der Priester die Hand ausstreckte, um mich zu stützen und dafür zu sorgen, daß ich

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