Tanz der Hexen
und sie konnte nach Hause fahren – zurück nach New Orleans.
Sie würde wahrscheinlich bis zum Morgen warten, vielleicht sogar bis Mittag. Dann würde sie in die Stadt fahren, fröhlich, und ohne den entsetzlichen Verkehr zu bemerken, der sich in Strömen in entgegengesetzter Richtung aus New Orleans hinauswälzte, und bis vier wäre sie zu Hause. Noch eine Stunde Mardi Gras, und dann kann ich nach Hause.
Was denn so furchterregend am Mardi Gras gewesen sei, ha t te Ryan wissen wollen.
»Daß ihr euch alle dort in der First Street treffen wolltet, ganz so, als ob Rowan euch die Tür öffnen würde! Das war so furchterregend.«
Wieder fiel ihr das Medaillon ein. Sie mußte sich vergewissern, daß sie es wirklich in der Handtasche hatte. Nachher.
»Du mußt dir klarmachen, was dieses Haus für diese Familie bedeutet«, hatte Ryan gesagt. Ryan! Als ob sie keine Ahnung hätte, nachdem sie doch nur zehn Straßen weiter aufgewac h sen war und die uralte Evelyn tagtäglich Geschichtsvorträge gehalten hatte.
Sie drehte das Gesicht zur Lehne des Sofas. Ach, wenn sie doch für immer in Destin bleiben könnte. Aber das war nicht möglich, und es würde nie möglich sein. Destin war ein Versteck, kein Ort zum Leben. Destin war nur ein Strand und ein Haus mit einem Kamin.
Das kleine weiße Telefon, das sich neben ihr in die Kissen schmiegte, klingelte plötzlich und schrill. Einen Augenblick lang wußte sie nicht mehr, wo es war. Der Hörer fiel von der Gabel, als sie hastig danach grabschte; dann hatte sie ihn in der Hand und hielt ihn ans Ohr.
»Gifford hier«, sagte sie müde. Gottlob war es Ryan, der an t wortete.
»Ich habe dich nicht geweckt?«
»Nein.« Sie seufzte. »Wann schlafe ich denn noch? Ich habe gewartet. Sag mir, daß bei euch alles gut gegangen ist. Sag mir, daß es Michael besser geht, daß niemandem etwas pa s siert ist, und daß…«
»Gifford, um Himmels willen. Was denkst du dir eigentlich, wenn du so redest? Daß eine Litanei etwas an dem ändern könnte, was vielleicht schon passiert ist? Du schleuderst Zaubersprüche gegen mich. Was soll das nützen? Willst du die Worte hören, die planmäßig aus meinem Munde kommen müssen? Was soll ich denn tun? Dir behutsam beibringen, daß jemand von einem berittenen Polizisten zu Tode getra m pelt oder von einem Prunkwagen zermalmt worden ist?«
Ah, es war also alles in Ordnung. Nichts war passiert. Gifford hätte jetzt auflegen können, aber das wäre nicht sehr rüc k sichtsvoll gegen Ryan gewesen, der ihr das Ganze gleich in eine Serie von Kleinberichten zerlegen würde, deren Zentra l thema war: »Alles ist prima gelaufen, du Dummkopf; du hä t test in der Stadt bleiben sollen.«
»Nach sechsundzwanzig Jahren weißt du nicht, was ich de n ke«, sagte sie mit halbem Herzen; sie wollte nicht wirklich streiten oder sich auch nur unterhalten. Die Erschöpfung schlug über ihr zusammen, jetzt, da der Mardi Gras wirklich fast vorüber war.
»Nein, zum Teufel, ich weiß wahrhaftig nicht, was du denkst«, antwortete er in gleichmütigem Ton. »Ich weiß nicht, warum du in Florida bist und nicht hier bei uns.«
»Weiter. Nächstes Thema«, sagte Gifford mild.
»Michael geht es gut, wirklich gut. Allen geht es gut. Jean hat mehr Perlen ergattert als sonst jemand in der Familie; Little CeeCee hat den Kostümpreis gewonnen, und Pierce ist fest entschlossen, Clancy jetzt jeden Augenblick zu heiraten. Wenn du willst, daß dein Sohn die Sache richtig und anständig angeht, dann solltest du lieber zurückkommen und anfangen, mit Clancys Mutter über die Hochzeit zu reden. Auf mich hört sie ganz bestimmt nicht.«
»Hast du ihr gesagt, daß wir die Hochzeit bezahlen?«
»Nein, dazu bin ich noch nicht gekommen.«
»Dann sieh zu, daß du dazu kommst. Mehr will sie gar nicht hören. Sprechen wir noch einmal von Michael. Was habt ihr ihm über Rowan gesagt?«
»So wenig wie möglich.«
»Gott sei Dank.«
»Er ist einfach noch nicht kräftig genug, um die ganze Geschichte zu hören.«
»Wer kennt denn die ganze Geschichte?« fragte Gifford verbittert.
»Aber wir werden es ihm erzählen müssen, Gifford. Wir kö n nen es nicht sehr viel länger hinausschieben. Er muß Bescheid wissen. Körperlich ist er auf dem Wege der Besserung. Aber geistig – ich kann es nicht sagen. Niemand kann es s a gen. Er sieht so… verändert aus.«
»Älter, meinst du«, sagte sie unglücklich.
»Nein, einfach anders. Es sind nicht nur die grauen Haare, die er bekommt. Es
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