Tanz der Hexen
nicht erst diese Talamasca-Gelehrten aus Amsterdam kommen müssen, um es ihr zu erzählen. Sie wußte es.
Sie hatte es gewußt, als sie das erste Mal in der First Street gewesen war – als kleines Mädchen, mit ihrer geliebten Großmutter, der uralten Evelyn, die schon damals so genannt worden war, weil sie so alt war und weil es mehrere junge Evelyns gab, eine, die mit Charles Mayfair, und eine andere, die mit Bryce verheiratet war… was allerdings aus denen geworden war, wußte sie nicht mehr.
Sie und die uralte Evelyn waren in die First Street gefahren, um Tante Carlotta und die arme, dem Unheil geweihte Deirdre Mayfair zu besuchen, die Erbin auf ihrem Schaukelstuhlthron. Gifford hatte den berühmten Geist der First Street gesehen – klar und deutlich -, eine Männergestalt, die hinter Deirdres Stuhl gestanden hatte. Die uralte Evelyn hatte ihn auch gesehen; daran hatte Gifford keinen Zweifel. Und Tante Carlotta, die stählerne, kalte und bösartige Tante Carlotta, hatte in diesem trostlosen Salon mit ihnen geplaudert, als wäre da nichts gewesen.
Was Deirdre anging, so war sie zu dieser Zeit schon katat o nisch gewesen. »Armes Kind«, hatte die uralte Evelyn gesagt. »Julien hat alles vorausgesehen.« Das war eine dieser Bemerkungen, die Evelyn nie hatte erläutern wollen, obwohl sie sie oft wiederholt hatte. Und später hatte sie zu ihrer kleinen Enkelin Gifford gesagt: »Deirdre hat all den Jammer kennen g e lernt, aber nie den Spaß, den es macht, eine von uns zu sein.«
»Es hat Spaß gemacht?« Das fragte Gifford sich heute wie damals. Was meinte die uralte Evelyn mit Spaß? Gifford hatte den Verdacht, daß sie es wußte. Man sah es auf den alten Fotos, die sie mit Onkel Julien zeigten. Julien und Evelyn an einem Sommertag im Stutz Bearcat, mit weißen Mänteln und Rennbrillen. Julien und Evelyn unter den Eichen im Audubon Park. Julien und Evelyn in Juliens Zimmer im zweiten Stock. Und dann das Jahrzehnt nach Juliens Tod, als Evelyn mit Ste l la nach Europa gereist war und sie ihre »Affäre« gehabt ha t ten, von der Evelyn mit großer Feierlichkeit sprach.
Bevor die uralte Evelyn verstummt war, in Giffords Jugendjahren, da war sie stets bereit gewesen, diese Geschichten zu erzählen, in festem, wenn auch flüsterndem Ton – wie Julien mit ihr ins Bett gegangen war, als sie dreizehn gewesen war, wie er zur Amelia Street gekommen und vom Gehweg herau f gerufen hatte: »Evelyn, komm herunter, komm herunter!«, und wie er Evelyns Großvater Walker gezwungen hatte, sie aus der Dachkammer zu befreien, in der er sie eingeschlossen hatte.
Böses, böses Blut zwischen Julien und Evelyns Großvater – und es reichte weit zurück, bis zu jenen Tagen in Riverbend, als Julien noch ein Junge gewesen war und sich versehentlich ein Pistolenschuß gelöst und seinen Cousin Augustin getroffen hatte.
»Ich wäre gestorben in dieser Dachkammer«, hatte die uralte Evelyn erzählt, »wenn Julien nicht gewesen wäre – wahnsi n nig und stumm, und weiß wie eine Pflanze, die nie die Sonne gesehen hat. Julien hat mir ein Kind gemacht, und das war deine Mutter, das arme Ding, das aus ihr geworden ist.«
»Aber warum, warum hat Onkel Julien es mit einem so jungen Mädchen getrieben?« hatte Gifford einmal gefragt – nur ei n mal, denn die Antwort darauf war ein machtvolles Donnerwetter gewesen.
»Sei stolz auf dein Mayfair-Blut. Sei stolz. Julien hat alles v o rausgesehen. Die Blutlinie des Vermächtnisses verlor ihre Kraft. Und ich liebte Julien. Und Julien liebte mich. Versuche nicht, diese Leute zu verstehen – Julien und Mary Beth und Cortland -, denn sie waren Giganten auf Erden, wie es sie jetzt nicht mehr gibt.«
Giganten auf Erden. Cortland, Juliens Sohn, war der Vater der uralten Evelyn gewesen, obgleich die uralte Evelyn es niemals zugeben würde! Und Laura Lee, Juliens Kind! Du lieber Gott, Gifford konnte die Blutlinien gar nicht verfolgen, wenn sie nicht Stift und Papier zur Hand nahm und sie nachzeichnete; das aber wollte sie, offen gesagt, nie tun. Giganten auf Erden! Die Wahrheit war eher, daß sie Teufel aus der Hölle waren.
»Oh, wie absolut köstlich«, hatte Alicia gesagt; genußvoll hatte sie zugehört, und immer war sie bereit gewesen, sich über Gifford und ihre Angst lustig zu machen. »Erzähl weiter, uralte Evelyn. Was ist dann passiert? Erzähl uns von Stella.«
Alicia war schon mit dreizehn eine Trinkerin gewesen. Sie ha t te älter ausgesehen, auch wenn sie dünn und schmächtig wie
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