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Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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frühen Abend genoß, die helle r leuchteten Cafes und die lärmenden Amerikaner. Er dachte inzwischen nicht mehr allzu oft an die Zigeuner, denn seit se i ner Flucht hatte er sie nicht mehr gesehen.
    Die schmale Straße war nur für Fußgänger; die hübschen Mädchen, die von der Arbeit nach Hause gingen, spazierten Arm in Arm daher, wie es in Rom Sitte war, oder sie schoben ihre bunt lackierten Vesparoller durch das Gedränge zur nächsten Verkehrsstraße. Yuri bekam Hunger. Popcorn genügte nicht. Vielleicht würde er in eines der Restaurants gehen und um einen Tisch für sich und seine Mutter bitten; er würde eine angemessene Zeit warten und dann etwas bestellen, und d a bei würde er sorgfältig darauf achten, daß man sein Geld sah, damit der Kellner dachte, er sei reich.
    Während er noch versuchte, sich zu entscheiden, sich das Salz vom Popcorn von den Lippen leckte und seine Zigarette ausdrückte, sah er einen Mann an einem Cafetisch sitzen, über ein Glas Wein und eine Karaffe gebeugt. Es war ein Mann von weniger als dreißig Jahren mit schulterlangem Zo t telhaar, aber in gut geschnittener Kleidung. Das deutete auf einen jungen Amerikaner hin; aber ein Hippie ohne einen Penny in der Tasche war er anscheinend nicht. Ja, dort auf dem Tisch neben ihm lagen eine sehr teure japanische Kam e ra, ein Notizbuch und ein Aktenkoffer. Anscheinend versuchte der Mann, etwas in das ledergebundene Notizbuch zu schre i ben, aber immer wenn er den Stift zur Hand nahm und ein paar Worte hingekritzelt hatte, begann er qualvoll zu husten, ganz wie Yuris Mutter auf jener letzten Reise gehustet hatte.
    Yuri beobachtete ihn genau. Der Mann war nicht nur krank, er fror auch. Er zitterte. Und betrunken war er außerdem. Das fand Yuri ein wenig abstoßend, denn es erinnerte ihn an seine Peiniger, die immer betrunken gewesen waren: Yuri war es von Natur aus zuwider, benebelt zu sein, und seiner Mutter war es ebenso gegangen: Ihre einzige Sucht war der Kaffee gewesen, soweit er sich erinnern konnte.
    Aber trotz seiner Betrunkenheit fand Yuri alles andere an dem Mann anziehend. Seine Hilflosigkeit, seine ersichtliche J u gend, seine klare Verzweiflung. Der Mann versuchte wieder, ein wenig zu schreiben, aber dann sah er sich um, als wisse er, daß er sich jetzt, da es vollends Abend geworden war, ein warmes Plätzchen suchen müsse. Er hob das Glas mit dem dunkelroten Wein, trank es langsam aus und lehnte sich z u rück; wieder erfaßte ihn einer dieser qualvollen Hustenanfälle, die seine schmalen Schultern schüttelten, bis er kraftlos gegen die eiserne Stuhllehne sackte.
    Er war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, und sein zottiges Haar war sauber. Er trug eine wollene Weste unter dem bla u en Jackett, und darunter ein weißes Hemd und eine seidene Krawatte. Und wenn er nicht so betrunken und so krank gew e sen wäre, dann wäre dieser Mann sicher eine leichte Beute gewesen. Und eine fette Beute dazu.
    Aber er war krank. Und es zerriß Yuri das Herz, wie er da saß, sichtlich elend und offenbar außerstande, sich von der Stelle zu rühren, obwohl er weg wollte. Yuri schaute sich um. Er sah nirgends Zigeuner, und auch niemanden, der ein Zigeuner hätte sein können. Und er sah keine Polizei. Es würde kein Problem sein, dem armen Mann zu helfen, von der Straße ins Warme zu kommen.
    Er trat an den Tisch und sagte auf englisch: »Sie frieren. Ich werde Ihnen helfen, ein Taxi zu bekommen. Oben an der P i azza di Spagna können Sie eines finden. Dann können Sie in Ihr Hotel fahren.«
    Der Mann starrte ihn an, als verstehe er kein Wort. Yuri beugte sich vor und legte die Hand des Mannes auf seine Schulter. Der Mann hatte Fieber. Seine Augen waren blutunterlaufen. Aber was für ein interessantes Gesicht… Die Gesichtsknochen waren groß, vor allem die Wangenknochen und die Wölbung seiner Stirn. Und so hellhaarig – vielleicht hatte Yuri sich ja geirrt, und der Mann vor ihm war Schwede oder Norweger und verstand überhaupt kein Englisch.
    Aber da sagte er: »Kleiner Mann.« Er sagte es leise und lächelte. »Mein kleiner Mann.«
    »Ich bin ein kleiner Mann«, sagte Yuri und spreizte die Schultern. Er lächelte und zwinkerte mit dem rechten Auge. Ta t sächlich aber durchschoß ihn ein kribbelnder Schmerz, denn genau das hatte seine Mutter immer zu ihm gesagt. Und di e ser Fremde sagte es genauso wie sie. »Ich will Ihnen helfen«, sagte Yuri. Er nahm die rechte Hand des Mannes, die leblos und feucht auf dem Tisch lag. »Sie frieren

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