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Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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gute Dienste geleistet.
    Nach der elenden Ernährung, die ihm seine Wärter gegönnt hatten, war er sehr mager, aber seine Zähne waren ebenm ä ßig, und es war ihm gelungen, sie weiß zu halten. Daß seine Stimme wohlklingend war, daran zweifelte er nicht. Vor dem Spiegel in einer öffentlichen Toilette übte er sein Lächeln, und dann machte er sich auf, um es an den Herren seiner Wahl zu erproben.
    Er erwies sich als ausgezeichneter Menschenkenner.
    Von zwei kleinen Irrtümern abgesehen, war er bald wieder umgeben von der vertrauten Staffage erstklassiger Hotelzimmer, im stillen dankbar für die köstlichen heißen Duschen und die luxuriösen Abendmahlzeiten, die der Roomservice auftrug. Mit überzeugender Mühelosigkeit – und einem leicht bitteren Lachen – spulte er die Geschichten herunter, die gerade nötig waren, um die Fragen seiner Bettgenossen zufriedenstellend zu beantworten und ihre offenkundigen, vorhersehbaren und mühelos erfüllbaren Wünsche von allen Hemmungen des G e wissens zu befreien.
    Bei einem gab er sich als Hindu aus, bei einem anderen als Portugiese, und einmal behauptete er sogar, er sei Amerik a ner. Seine Eltern seien Touristen, erzählte er, und sie hätten ihn sich selbst überlassen, um einzukaufen und spazieren zu gehen. Ja, wenn der nette Herr ihm unten in den Geschäften in der Hotelhalle Kleider kaufen wolle, dann werde er das mit Freuden annehmen. Seine Eltern würden es gar nicht merken; darum brauchte man sich keine Sorgen zu machen. Bücher und Zeitschriften, ja, durchaus, und Schokolade, die liebte er. Sein Lächeln und seine Dankesbezeugungen waren eine M i schung aus Verstellung und Wahrheit.
    Er dolmetschte für seine Kunden, wenn sie es wünschten. Er trug ihr Gepäck. Er führte sie per Taxi zur Villa Borghese – einem seiner Lieblingsorte – und zeigte ihnen die Wandgemälde und Statuen und andere Besonderheiten, die ihm gefielen. Das Geld, das sie ihm gaben, zählte er nicht erst; mit strahlendem Lächeln und einem kleinen, wissenden Augenzwinkern steckte er es in die Tasche.
    Aber er lebte in ständiger Angst davor, daß die Zigeuner ihn entdecken und wieder in ihre Gewalt bringen könnten. So sehr fürchtete er sich davor, daß es ihm manchmal den Atem verschlug. Er ging so selten wie möglich ins Freie. Manchmal stand er zitternd vor Angst in irgendeinem Hauseingang, rauchte eine Zigarette und fluchte vor sich hin, und dann fragte er sich, ob er es wagen konnte, Rom zu verlassen. Die Zige u ner hatten nach Neapel gewollt. Vielleicht waren sie schon weg.
    Manchmal lungerte er in Hotelkorridoren herum und aß, so gut er konnte, von den Resten auf den Tabletts, die draußen vor den Zimmertüren standen.
    Aber es wurde leichter und leichter. Er lernte, darum zu bitten, die Nacht hindurch in einem sauberen Bett schlafen zu dürfen, bevor er seine kleinen Vereinbarungen traf.
    ‘ Ein reizender grauhaariger Amerikaner kaufte ihm eine Kamera, nur weil er sich nach solchen Dingen erkundigt hatte, und ein Franzose schenkte ihm ein kleines Radio und sagte, er selbst habe keine Lust mehr, es mit sich herumzuschle p pen. Zwei junge Araber kauften ihm in einem englischen I m portgeschäft einen dicken Pullover.
    Am zehnten Tag seiner neugewonnenen Freiheit wurde sein papierner Reichtum allmählich zu unhandlich. Seine Taschen platzten aus allen Nähten. Er hatte sogar schon seinen ga n zen Mut zusammengenommen, war mittags in ein feines R e staurant gegangen und hatte sich ganz allein etwas zu essen bestellt. »Mamma sagt, ich muß meinen Spinat essen«, sagte er in seinem besten Italienisch zum Kellner. »Sie haben doch Spinat?« – wobei er genau wußte, daß der Spinat in den römischen Restaurants zu den besten Speisen überhaupt gehörte. Er ließ ein stattliches Trinkgeld neben seinem Teller liegen, als er ging.
    Aber wie lange konnte das so weitergehen?
    Am fünfzehnten Tag seines Abenteuers – vielleicht auch ein bißchen später – begegnete er schließlich dem Mann, der den Lauf seines Lebens verändern sollte.
    Es war inzwischen November und wurde allmählich kalt. Yuri war in der Via Condotti, nicht weit von der Spanischen Treppe; er hatte sich eben in einem der modischen Geschäfte einen Kaschmirschal gekauft. Die Kamera hing an seiner Schulter, und das kleine Radio steckte unter dem Pullover in der Hem d tasche. Er hatte die Taschen voller Geld. Er rauchte eine Zig a rette und kaute Popcorn aus einer Zellophantüte, während er so dahinschlenderte und den

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