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Tanz der Hexen

Tanz der Hexen

Titel: Tanz der Hexen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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zugute – daß sie clever gewesen war, von natürlicher Schönheit und ein wenig tollkühn. Sie hatte mit ihren Männern viel Geld verdient, aber sie war gesellig gewesen und hatte immer auf gutem Fuß mit den Bediensteten der Hotels gestanden, in denen sie ihre Männer empfangen hatte, und sie hatte Freundinnen gehabt, mit denen sie oft den Nachmittag verbrachte, um bei Kaffee oder englischem Tee über Gott und die Welt zu plaudern.
    Ihre Männer hatten Yuri nie schäbig behandelt. Viele bekamen ihn gar nicht zu sehen, und diejenigen, die seine Mutter läng e re Zeit begleiteten, waren immer nett zu ihm, denn sonst hätte Yuris Mutter sie niemals geduldet. In dieser Atmosphäre der Freundlichkeit und des allgemeinen, nachsichtigen Durcheinanders war er erblüht; er hatte frühzeitig lesen gelernt, fast nur aus Illustrierten und Zeitungen, und er war gern durch die Straßen gestreunt.
    Als die Zigeuner Yuri geholt hatten, hatten seine Bitterkeit und sein Schweigen begonnen. Er vergaß niemals, daß sie seine eigenen Verwandten waren, diese Diebesbande, die Kinder kaufte und sie zum Stehlen nach Paris und nach Rom verschleppte. Ihnen war Yuri in die Hände gefallen, nachdem seine Mutter in ihrem Heimatdorf gestorben war, einem e r bärmlichen Flecken, in den sie sich zurückgezogen hatte, als ihr klargeworden war, daß es zu Ende ging.
    Jahre später hatte Yuri versucht, das Dörfchen und was von der Familie übrig war, wiederzufinden, aber es gelang ihm nicht, seine Reise nordwärts durch Italien und nach Serbien zurückzuverfolgen.
    Wieso war er so lange bei den Zigeunern geblieben? Wieso war er ein so guter kleiner Taschendieb geworden, der die Touristen umtanzte, sich an sie klammerte und ihnen die Brieftaschen entriß, wie man es ihn gelehrt hatte? Was stimmte nicht in seinem Kopf, daß er so etwas tat?
    Diese Frage würde ihn wahrscheinlich bis zu seinem Tode quälen. Natürlich hatten sie ihn geschlagen; sie hatten ihn hungern lassen, ihn verhöhnt und bedroht, und zweimal hatten sie ihn eingefangen, als er versucht hatte, davonzulaufen. Schließlich hatten sie ihm klargemacht, daß sie ihn umbringen würden, wenn er es noch einmal versuchen sollte. Dann wi e der waren sie auch sanft zu ihm gewesen, verführerisch, voller Versprechungen – auch das war wahr.
    Aber mit neun Jahren hätte Yuri es besser wissen müssen. Das dachte er jedenfalls heute. Seine Mutter wäre auch als Kind nicht so dumm gewesen. Kein Zuhälter hatte Yuris Mutter je versklaven können. Kein Mann hatte sie je einschüchtern können, auch wenn sie sich ab und zu verliebt hatte… für ein Weilchen wenigstens.
    Seinen Vater hatte Yuri nie kennen gelernt, aber er wußte, wer es gewesen war – ein Amerikaner aus Los Angeles, und reich. Bevor Yuri und seine Mutter Rom verlassen und sich auf jene letzte Reise begeben hatten, da hatte sie den Paß von Yuris Vater, ein bißchen Geld, ein paar Fotos und eine vorzügliche japanische Uhr in einem Bankschließfach hinterlegt. Das war alles, was sie von Yuris Vater noch hatten; er war gestorben, als Yuri erst zwei Jahre alt gewesen war.
    Er war zehn gewesen, als es ihm gelungen war, die alten Schätze abzuholen.
    Die Zigeuner hatten ihn monatelang in Paris stehlen lassen, dann in Venedig und dann in Florenz, und erst als der Winter kam, waren sie nach Rom gezogen.
    Als er die Ewige Stadt wiedersah, die Stadt, die er mit seiner Mutter erlebt hatte, da packte Yuri die Gelegenheit beim Schopf. Er wußte, wo er hingehen mußte. Am Sonntag Vormi t tag, als die Zigeuner im Gedränge auf dem Petersplatz bei der Arbeit waren, nahm er sich seine Freiheit. Mit einer frischgestohlenen Brieftasche voller Geld sprang er in ein Taxi, und wenig später spazierte er durch die überfüllten Touristencafes auf der Via Veneto und sah sich nach reicher Gesellschaft um, wie seine Mutter es immer so anmutig getan hatte.
    Es war kein Geheimnis für Yuri, daß es Männer gab, die kleine Jungs den Frauen vorzogen. Und vieles hatte er durch eigene Anschauung gelernt, wenn er seine Mutter durch das Schlü s selloch oder den Türspalt beobachtete. Es war offenkundig, daß es leichter sein konnte, die Initiative zu ergreifen, als pa s siv zu sein, und daß Intimitäten mit Fremden in einer geschmackvollen Atmosphäre leichter zu ertragen waren.
    Ein weiterer Vorteil war, daß er von Natur aus ebenso zärtlich sein konnte wie seine Mutter; das würde er sich jetzt zunutze machen, denn er brauchte es, und ihr hatte es immer so

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