Tanz der Kakerlaken
entschlossen, einmal in seinem Leben richtig zu prassen. Gott, der ihn geschaffen hatte, hatte ihm auch seinen unbändigen Appetit geschenkt. Gott hatte der Knackerlake nur deshalb einen schlanken, stromlinienförmigen, kompakten Körper gegeben, damit sie sich auf der Flucht durch schmale und enge Stellen zwängen kann. Chid hatte nicht die Absicht, jemals wieder vor irgendwas oder irgendwem davonzurennen; er hatte es nicht nötig, dünn zu sein; er konnte es sich zumindest leisten, seinen vollen Umfang zu erreichen.
Und Josie, seine neue Gefährtin, die schon immer angenehm drall gewesen war, konnte es sich jetzt erlauben, die Ausmaße einer Königin der Kolonien anzunehmen. Ebenso wie die Königin der Termiten, ihre entfernten Vettern, im Vergleich mit ihren Untertanen eine korpulente Riesin war, war es nur angemessen, daß Chids Königin alle anderen weiblichen Knackerlaken in Stay More an Leibesumfang übertraf. Sie mußte nicht gerade wie eine Raupe aussehen, von der grotesk aufgeblähten Termitenkönigin ganz zu schweigen, aber es würde ihr in den Augen anderer Stay Morons ein gewisses Format verleihen, wenn ihr Umfang dem – ja, Chid erlaubte sich, das Wort zu gebrauchen – dem des Königs gleichkam. »König«, sagte er laut, um zu sehen, wie es sich anhörte.
»Was hast du gesagt, Schatz?« erkundigte sich Josie.
Chid gefiel das kleine Kosewort, das sie ans Ende ihrer Frage anfügte. Sie würden ganz prächtig miteinander auskommen. »Mmmmph, hum«, erwiderte er und reichte ihr noch ein Stückchen von dem Cremetrüffel oder wie Tish es genannt hatte.
Nichtsdestotrotz, überlegte Chid, als er tiefer und tiefer in die Gefilde der Monarchie eindrang, würde er gewisse Aspekte des Priesteramtes vermissen. Wie sollte er als König je Zeit finden, sein Hobby, die lokale Geschichts- und Ahnenforschung, weiterzubetreiben? Nein, er würde es aufgeben müssen, nette alte Damen zu befragen und die Stammbäume aller Leute von Stay More auszukundschaften. Das langweilige Gepredige bei Trauerfeiern und Hochzeiten und Taufen und mittwochabendlichen Gebetsversammlungen würde ihm nicht fehlen, und mit Sicherheit würde er es nicht vermissen, an den Teekränzchen der Damen des Wohlfahrtsverbands teilzunehmen und vor der Gemeinschaft junger Chrustenlaken mahnende Reden und Moralpredigten zu halten.
Aber er würde – ja, das mußte er sich eingestehen – er würde seine besondere Beziehung zum Herrn vermissen. Daß der Herr sich als ein ungöttlicher Trunkenbold und Taugenichts herausgestellt hatte, der nicht einmal simpler Liebe, geschweige denn der Anbetung würdig war, tat wenig zur Sache. Sein ganzes Leben lang hatte Chid seine Zeit, seine Energie und seine Gedanken dem Dienst dieses Mannes gewidmet. Schließlich hatte er sich mit dem Mann identifiziert; er hatte geglaubt, daß dieser Mann ihn, wenn schon nicht nach Seinem Bilde geschaffen hatte, so doch nach dem Bilde dessen, was Er, der Mann, für das intelligenteste und wohlgestaltetste Insekt hielt. Trotz all Seiner Fehler und Unzulänglichkeiten war es traurig, Ihn zu verlieren.
»GÖTTERSPEISE!« rief die Uhr, und Chid wußte jetzt, daß die Uhr oder welche Kosmische Kraft sie auch lenken mochte, zu ihm sprach. Er spuckte das Mousse au chocolat aus, das er im Mund hatte.
»Was ist los, Liebling?« fragte Josie. »Ne Gräte in deinem Essen gefunden, he-he-he?«
»Götterspeise«, sagte Chid mit viel Gefühl.
»Nee, das ist das nicht«, bemerkte Josie. »Tish sagte, es wär ›Musoschokolade‹ oder so ähnlich. Das da drüben ist Götterspeise.« Sie langte hinüber, nahm einen grünlichen, wabbeligen Klumpen von dem Haufen und hielt ihn ihm hin.
Chid lehnte ab. »Götterspeise«, sagte er noch einmal. »Die Uhr hat ›Götterspeise‹ zu mir gesagt. Die Götter wollen mich verzehren und vernichten.«
»Ach, sie hat dich doch nicht persönlich gemeint«, sagte Josie. »Das sagt sie zu jedem.«
Doch Chid warf sich zu Boden und betete. Sein Gebet wurde durch die Rückkehr seines Sohnes unterbrochen. Archy hatte Tish nicht bei sich, und er sah zum Fürchten aus. Er grummelte und brummelte eine Latte von Flüchen und Obszönitäten vor sich hin. Josie bot ihm das grünliche Gewabbel an, aber er lehnte fluchend ab.
Chid war betroffen, daß sein Sohn sich so unanständig ausdrückte. »Was quält dich, Junge?« fragte er.
Archy hob seinen mißmutig hängenden Kopf und sah seinen Vater aus großen gramerfüllten Augen an. »Tish ist keine Jungfrau mehr«,
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