Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tanz der Kakerlaken

Tanz der Kakerlaken

Titel: Tanz der Kakerlaken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donald Harrington
Vom Netzwerk:
vielleicht war Sam ihm in Träumen oder Geschichten begegnet. Er war die kräftigste und größte, um nicht zu sagen die majestätischste Knackerlake, die Sam jemals gesehen, geträumt oder sich vorgestellt hatte, aber der Blick, mit dem er Sam bedachte, reichte, den Eiter in seinen Adern gefrieren zu lassen. Er sprach: »Du kannst deinen Weg fortsetzen.« Er forderte Sam mit einer Bewegung auf, weiter den Glockenstrang hinaufzuklettern. Sam wurde sich verblüfft der Tatsache bewußt, daß er diese Worte deutlich hatte hören können, obwohl der Fremde seine Stimme nicht erhoben hatte. Es dauerte einen Augenblick, bis Sam einen Krabbler über den anderen setzen und seinen Weg den Glockenstrang hinauf fortsetzen konnte, und die Knackerlake flog neben ihm her, in völliger Nichtachtung der Tatsache, daß der Flug einer Knackerlake nie länger als ein paar Sekunden dauern kann.
    Sam war nicht überzeugt, daß der Fremde wirklich eine Knackerlake war, er kletterte jedoch weiter, bis er die Glocke erreichte und unsicher auf dem Eisenträger stand, wo das Seil endete. Der Fremde landete ihm gegenüber. Mit den Flügeln in Ruhestellung wirkte der Fremde nicht mehr ganz so riesig, aber immer noch war er viel größer als Sam.
    »Wer bist du?« fragte Sam.
    Der Fremde lachte. Es war das erste Lachen, das Sam seit langer Zeit mit seinen geschwächten Schwanzreifen wahrgenommen hatte; wieder Lachen zu hören wirkte fast wie ein Tonikum. Dann stellte sich der Fremde vor, indem er sagte: »Die meisten deinesgleichen nennen mich die Mackerlake, aber das ist nicht mein Name.«
    »Bist du … bist du Satan?« fragte Sam.
    Wieder das Lachen. »Der alte Pferdefuß. Der Gehörnte. Der Leibhaftige. Ich habe viele Namen.«
    »Wie der Teufel siehst du nicht aus«, bemerkte Sam.
    Von neuem das herzhafte laute Lachen, das Sam begreiflich machte, warum dieses Geschöpf die Mackerlake genannt wurde. War das Lachen eine Macke? »Wie sieht der Teufel denn aus?« fragte die Mackerlake.
    »Nun … diabolisch«, meinte Sam. »Finster. Dämonisch. Dich könnte man fast für einen netten Kerl halten.«
    Der Fremde hörte kaum zu lachen auf. »Ich möchte meinen, daß meine Absichten wohlwollend sind, nicht böse.«
    »Immerhin hast du mich gerettet«, sagte Sam.
    »Eine Zeitlang hast du dich prächtig geschlagen, bist mit allem fertig geworden, was dir in den Weg kam. Aber diese Fledermaus war ein anderes Kaliber.«
    »Dann hast du also auf mich gewartet?« Sam kehrte die Feststellung im letzten Augenblick in eine Frage um. »Weißt du alles, was vor sich geht?«
    Die Mackerlake machte eine Verbeugung und lächelte, sagte aber nichts.
    »Ich kann einfach nicht glauben, daß du wirklich bist«, erklärte Sam. »Aber du stehst hier vor mir, stimmt's? Als ich klein war, habe ich die wildesten Geschichten über dich gehört. Wahrscheinlich sind alle wahr. Ich hab sie nicht geglaubt, aber mir würde auch keiner glauben, wenn ich ihnen erzählte, wie du diese Fledermaus verjagt hast.« Die Mackerlake lächelte weiter auf diese fast mackerhafte Weise. »Kannst du mir sagen«, fragte Sam, »ob der Mann noch lebt?«
    »Die Menschheit lebt noch«, antwortete die Mackerlake.
    »Aber Lawrence Brace … lebt Er noch?«
    Die Mackerlake wollte nicht antworten. Statt dessen sagte er: »Schau dir die Glocke an«, und zeigte auf den riesigen schwarzen Bronzekörper neben ihnen, dessen Form nur mit bestimmten Blumen vergleichbar war, die Sam in ihrer Blüte gesehen hatte, Glockenblumen und Lilien, aber diese war hart und starr und unendlich viel größer als jede Blume. »Lies«, befahl ihm die Mackerlake.
    An einer Stelle am Rand der Glocke waren Buchstaben in das Metall geschlagen, und Sam las sie laut vor: »Gießerei Samuels, St. Louis.«
    »Nicht das«, sagte die Mackerlake, »weiter oben.«
    Weiter oben am Rand war eine Inschrift in Lateinisch, deren Worte Sam nicht einmal aussprechen, geschweige denn verstehen konnte:
     
    Nunquam aedepol temere tinnit tintinnabulum
    Nisi quis illud tractat aut moret, mutum est
     
    »Was bedeutet das denn?« fragte Sam.
    »Das wirst du herausfinden, bevor diese Geschichte zu Ende ist.«
    »Geschichte? Ist das hier nur eine Geschichte?«
    »Alles, woran ich beteiligt bin«, sagte die Mackerlake, »ist nur eine Geschichte. Wenn du hörst, was die Leute erzählen.« Er lachte von neuem, diesmal über seinen eigenen Witz, und dann mahnte er Sam: »Vergiß nicht, wozu du hier raufgekommen bist«, und in dem Augenblick, als Sam sich

Weitere Kostenlose Bücher