Tanz der Kakerlaken
und Tish hatte noch nie in ihrem Leben gelogen.
Sie kann Archys Verbitterung verstehen, und es tut ihr weh, denn sie hat Archy wirklich gern. Wäre Sam nicht in ihr Leben getreten, sie wäre von der Aussicht, Archy zu heiraten, hingerissen gewesen. Jedes Mädchen in Stay More würde ihre rechte Schnüffelrute dafür geben, Archys Eheweib zu werden. Verglichen mit Sam ist Archy so nüchtern, praktisch und vernünftig, ganz zu schweigen davon, daß er viel besser aussieht. Sam ist alles andere als häßlich, aber er hat einfach nicht Archys große Augen, seine festen Mandibeln und schnittigen Flügel. Und irgendwie fühlt sich Tish in Archys Gesellschaft viel behaglicher. Sam wirkt, ganz abgesehen von seiner Taubheit, irgendwie distanziert, unnatürlich, nicht von dieser Welt. Er ist nicht »einer von uns«, so wie Archy. Er ist einfach so anders, auch wenn es unwahrscheinlich ist, daß er jetzt, da die Uhr stehengeblieben ist, jemals wieder in dieser sonderbaren Wohnung in der Uhr wird leben wollen.
Wird Sharon jemals nach Hause kommen und die Uhr aufziehen? Wie würde Tishs Leben wohl aussehen, wenn sie nach Sharons Rückkehr hier im Parthenon bliebe? Selbst für den Fall, daß Sharon zurückkehrt, und Tish bezweifelt das ebensosehr wie Archy, ist Tish sich nicht sicher, daß sie mit Sam im Parthenon würde leben wollen (vorausgesetzt natürlich, er würde sie jemals darum bitten). Sie würde sich einsam fühlen und Sehnsucht bekommen nach den Leuten aus Carlott und dem Heiligen Haus, nach ihren Brüdern und Schwestern, nach ihrer Mutter und ihrem V–. Von neuem denkt Tish an ihren verwesterten Vater, und von neuem vergießt sie Tränen.
Weil sie keinen Schlaf findet, klettert sie die Frisierkommode hinauf und sieht sich, halb blind vom Tageslicht und taumelnd, zwischen den Utensilien um, mit denen die Frau sich schön zu machen pflegt. Tish kann zuerst nicht erkennen, welche Funktion die einzelnen Gegenstände haben: Die Bürste und der Kamm sind offensichtlich für die Haare, aber wozu dienen all die Plastikrollen? Und das Brettchen, an dem Tausende von Sandkörnern kleben? Ist das dazu da, um sich die Zähne zu putzen? Die verschiedenen Flaschen und Töpfchen, Tuben und Metallröhren, Phiolen und Puderdosen faszinieren sie, und obwohl sie lesen kann, kann sie ihren Inhalt und Zweck doch nur erraten.
Sie ist nicht allein. Sie dreht sich um und sieht Archy auf sich zukommen; seine Krabbler bewegen sich steif und sonderbar die Frisierkommode entlang, und, noch sonderbarer, ihre Schnüffelruten machen eindeutig seinen Schlafgeruch aus. Er schläft und wandelt doch umher! Seine Augen sind ausdruckslos. Während er sich ihr nähert, murmelt er mit trauriger, verzweifelter Stimme: »Im Westen! Im Westen! Im Westen!«
Sie ist so überrascht, daß sie nichts sagen kann, hat aber keine Angst vor ihm. Sie wartet. Er kommt zu ihr und hebt sie mit Hilfe seiner vorderen Krabbler in seinen starken Fühlern hoch. Er trägt sie.
»Mein Weib – im Westen, im Westen!« sagt er.
Er trägt sie zum Rand der Frisierkommode. Hat er vor, sie hinunterzuwerfen? Oder träumt er, er könnte mit ihr davonfliegen? Ist der »Westen«, von dem er immer wieder spricht, der Westen, in den er fortzugehen gedenkt, oder ist es der Westen der Nichtexistenz? Was tut er mit ihr? Am Rand der Frisierkommode bleibt er stehen, hält sie einen Moment lang noch höher über seinen Kopf, und sie hat einen Überblick über das ovale Wasserbecken auf einer Anhöhe über dem Boden, das von einer glänzenden weißen Porzellanschüssel umschlossen ist, ein Teich aus kristallklarem Wasser, von einem hölzernen Ufer umrahmt.
Sie versucht zu sprechen, doch er bringt sie mit einem Kuß zum Schweigen, einem innigen, leidenschaftlichen und doch schmerzerfüllten Kuß. Dann stößt er sie von sich ins Leere! Und sie fällt unerbittlich hinunter, den wartenden Wassern entgegen. Sie schlägt vergeblich mit ihren nicht vorhandenen Flügeln, tritt mit ihren Krabblern um sich und bringt es noch fertig, zu rufen: »Oh, Archy, wie konntest du nur?!«, doch die letzte Silbe und das Fragezeichen werden vom Wasser erstickt.
Tish gerät nicht in Panik und geht nicht unter. Sie tritt mit ihren Krabblern Wasser und hält ihre Schnüffelruten trocken. Das Ufer ist zu hoch, aber die Wand der Porzellanschüssel, die in der Nachmittagssonne glitzert, ist nicht weit entfernt, und sie schwimmt langsam darauf zu, erreicht sie und sucht sich mit den Spitzen ihrer Krabbler
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