Tanz der Kakerlaken
festzuhalten. Die Wand ist zu glatt und unzugänglich; sie findet nirgendwo Halt. Sie krabbelt und sie kratzt, sie reckt sich und sie springt, aber sie bekommt die Wand nicht zu fassen. Überall um sie herum der gleiche Anblick, ein durchgehender Wall aus höhnisch weißem und reinem Porzellan. »Archy!« ruft sie hinauf in der Hoffnung, ihn aufzuwecken, obwohl sie sich nicht vorstellen kann, wie er ihr helfen sollte. Aber er ist verschwunden, er ist dorthin zurückgegangen, wo er seinen Traum begonnen hat, um ihn zu beenden, oder er ist schlafwandelnd in einen anderen Teil des Parthenon geirrt.
Sie läßt sich treiben. Ihre Kräfte haben sie nicht verlassen, noch nicht, und sie verhält sich so ruhig wie möglich, denn sie weiß, daß die leiseste Andeutung von Verzweiflung sie schwächen und so aus der Fassung bringen kann, daß sie ertrinken müßte. Die Zeit vergeht, oder, da es keine Zeit mehr gibt und nur die Gegenwart existiert, dehnt sich die Gegenwart, endgültig, zermürbend, ins Endlose. Das Tageslicht vergeht, Tish bekommt Hunger und weiß, daß jetzt Frühstückszeit ist. Wenn die Uhr noch ginge, würde sie »POPCORN« sagen, aber die Uhr ist im Westen. Irgendwie bringt der Gedanke an Popcorn Tish auf den Gedanken an ihr Osterei, und sie fragt sich, wie es ihren sechzehn Babys gehen mag, die an der Stelle, wo sie und Hämmann sie versteckt haben, stetig in ihrer Kapsel weiterwachsen. Noch ein guter Monat wird vergehen, bevor die Kapsel ausgebrütet ist, aufspringt und die sechzehn in diese grausame Welt entläßt. Wird einer von ihnen den Weg zurück nach Stay More finden, und wird irgend jemand in Stay More ihnen von ihrer Mutter erzählen, die ertrunken ist in einer –, in einer –? Tish ist so lange in diesem Wasser gewesen, daß sie sich nach und nach über seine Bestimmung klargeworden ist: Es ist kein Reservoir an Trinkwasser oder Waschwasser, sondern Wasser, das aus irgendeiner unterirdischen Quelle wie ein Springbrunnen nach oben befördert worden ist und unter die Erde zurückkehren wird, um die Ausscheidungen der Frau fortzuschaffen. Deshalb ist es ein Wasserklosett. Wird irgend jemand den sechzehn armen Kleinen erzählen, daß ihre arme Mutter in einem Wasserklosett verwestert ist?
Wann wird Sharon zurückkehren, feststellen, daß ein schwarzes Schabentier, vielleicht noch lebendig, in ihrem Wasserklosett schwimmt, und es dann mit dem Wasser wegspülen? Denn das allein scheint Tishs Schicksal zu sein. Als sie an Schicksal denkt, fällt Tish ihre gute Fee und Patin, das Schicksal-Ding, ein, und sie fragt sich, warum diese gütige Beschützerin sie auf diese Weise in den Westen schicken will. Vielleicht, so überlegt Tish, während die Nacht hereinbricht, weiß das Schicksal-Ding, daß jeder schließlich verwestern muß, und das Schicksal-Ding, hat für Tish diese dramatische, besondere, außergewöhnliche Form des Westens gewählt.
Von Zeit zu Zeit, oder, da es keine Zeit mehr gibt, sondern nur eine Art Notwendigkeit, etwas zu wiederholen, ruft Tish »HILFE!« Sie kann nicht wissen, daß ihr Vater, angeblich selbst im Westen, gelegentlich, wenn er nicht gerade an Zitronen- oder Eierschalen kaut, gleichfalls seine Kräfte zusammennimmt, um »HILFE!« zu brüllen. In demselben Haus verhallen ihre Rufe ungehört, die des Vaters, weil sie von einer dicken Plastiktüte abgefangen und gedämpft werden, die der Tochter, weil sie in den festen Wänden der Porzellanschüssel eingeschlossen ist, die tatsächlich wie ein Megaphon wirkt und die Hilferufe nach oben lenkt, wenn nur jemand da wäre, um sie zu hören …
Es ist jemand da, um sie zu hören. Er thront wie ein Schutzengel auf dem Rand des runden Holzsitzes und schaut auf sie herunter. Es ist nicht Archy. Tish versucht, mit Hilfe von Gesten »Hilf mir« zu signalisieren, aber sie bringt im Wasser ihre Gesten nicht zustande. Sie versucht, mit ihren Schnüffelruten »H-I-L-F-E« zu buchstabieren, aber ihre Schnüffelruten sind zu naß zum Buchstabieren. Sie kann nur, verzweifelt und erleichtert, stöhnen: »Oh, Sam!«
»Tish«, sagt er. »Mrs. Tish Tichborne. Weißt du, es hört sich an wie jemand mit nem Sprachfehler.«
»ICH WEISS! ICH WEISS!« ruft sie in der Hoffnung, er könnte sie hören. »ABER DAS BIN ICH NICHT! EHRLICH NICHT!« Sie schluchzt, und da all die Kraft ihrer Stimme aufgebraucht ist, kann sie nur seufzen: »Wenn du mich hier rausholen könntest, könnte ich dir alles erklären.« Sie redet mit sich selbst.
»Erklär's mir
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