Tanz der Kakerlaken
gesehen.«
»Bist du sicher, daß sie es war?« fragte er. »Woher weißt du das?«
»Alle Welt kennt die Frau des Predigers«, erklärte sie.
Archy schien es weiterhin nicht glauben zu können. Dann fing er an, es zu glauben, und dann wurde er wütend. »Warum hast du es mir nicht gesagt?« fragte er.
»Ich dachte, du wüßtest es schon«, erwiderte sie.
»Du meinst, die ganze Zeit über, wo ich so reizend zu dir gewesen bin, wo ich dich geliebt und so nett mit dir geredet habe und alles, diese ganze Zeit über hast du gewußt, daß ich mutterlos bin?«
Tish konnte nur nicken. Dann setzte sie leise hinzu: »Ich bin auch mutterlos.«
Archy stieß ein hohles Gelächter aus. »Ich wollte dich gerade bitten, morgen abend zum Frühstück zu uns zu kommen, damit du meine Mama kennenlernst«, erklärte er. »Jetzt hat das ja wohl nicht mehr viel Sinn, oder?« Als sie auf diese rhetorische Frage nicht antwortete, sagte er: »Na ja, wüschen uns, irgendwo, früher oder später«, und er schwenkte seine sechs Krabbler herum und verschwand.
»Archy!« rief sie ihm nach. Er wandte sich nicht mehr um.
Traurig betrat sie ihr Zuhause, dessen Holz zwar mit Wasser vollgesogen war, in dem aber alle ihre Brüder und Schwestern nicht nur wohlbehalten, sondern außer sich vor Freude waren, auf und nieder hüpften, einander in den Armen lagen und vom »Parthenon« plapperten. Am höchsten sprang Jubal auf und nieder und rief aus: »Na, schau an, wer da ist!«
»Hallo, Jubal, wie liegen die Dinge?« sagte sie.
»Ich sag dir, wie die Dinge liegen!« rief er aus. »Papa ist nicht im Westen! Mama auch nicht! Sie sind beide genauso im Osten wie du und ich!«
»Was!?« sagte Tish und fing an, mit ihren Schnüffelruten umherzusuchen. »Wo sind sie?«
»Sie sind rüber zum Parthenon gegangen, um nach dir zu sehen.«
»Nach mir? Ich bin doch hier.«
»Aber bist du nicht grad im PARTHENON gewesen? Hast du nicht bei den Ingledews unsere Verwandtschaft geltend gemacht?«
»Na ja, so ähnlich«, gestand sie.
»Werden wir nicht alle in den Parthenon ziehen?« fragte er, und ihre versammelten Brüder und Schwestern nahmen die Frage auf und wiederholten sie ein ums andere Mal wie im Kanon: »Werden wir's nicht?«, »Allesamt?«, »Parthenon?« und »Einziehen?«
»Laßt mich doch erst mal hinsetzen und erklären«, protestierte Tish, hockte sich auf den feuchten durchweichten Boden nieder und seufzte. »Ich bin fix und fertig«, sagte sie und fragte dann: »Könntet ihr mir wohl ein bißchen Schwamm zum Essen auftreiben?«
»Pah, Schwamm!« sagte Jubal. »Guck mal, was wir alles zu essen haben!« Er scheuchte die Horde der Geschwister beiseite und deutete auf den angehäuften Leichenschmaus. Tish erkannte sogleich, was es war; es ist der Traum und Schrecken jeder jungen Knackerlake, die Mischung aus Kummer und Freude zu erleben, die ein solcher Leichenschmaus auslöst.
»Das hier heißt ›Erdnußkrockwand‹«, sagte sie wissend zu Jubal und nahm ein Stückchen davon.
Um nicht zurückzustehen, sagte er: »Das hier heißt Marshmallow«, und zeigte ihr ein Stückchen, das er gehortet hatte.
Der gesamte Dingletoon-Nachwuchs scharte sich um den Leichenschmaus und speiste, während Tish zwischen den Happen versuchte, ihnen die Geschichte ihres Besuches im Parthenon zu erzählen, wobei sie ihr indiskretes Erlebnis mit Junker Sam natürlich ausließ. Als sie fertig war, schwatzten alle Kinder wild durcheinander: »Wann ziehen wir denn in den Parthenon?«, »Wann?« »Ziehen!« und »Parthenon?« und »Wann, wann, wann?« Tish versuchte zu erklären, daß der Parthenon, ausschließlich das Reich der Junker Ingledew war, und selbst wenn die Dingletoons Ingledews waren, konnten sie nicht alle auf einen Haufen in dieses wunderbare Haus einmarschieren.
Als sie mit der Geschichte vom Parthenon fertig war, drängten ihre Brüder und Schwestern: »Erzähl uns noch eine, Schwesterchen!« Also erzählte sie ihnen die Geschichte von den jüngsten Schießereien während der Gebetsversammlung im Heiligen Haus und dem Schuß, der den Herrn Selbst verwundet hatte. Diese letzte Neuigkeit konnten die anderen nicht glauben. Der Mann ist gegen Kugeln geschützt, sagten sie. Er kann keine Löcher kriegen. Durchaus nicht, beharrte Tish; sie hatte das Heilige Blut gesehen. Sie beschrieb es. Es war rot und dicker als Eiter.
Sie erzählte von der Couch, auf der der Herr lag, und sie schilderte in allen Einzelheiten die Korridore in den Wänden und den
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