Tanz der Kakerlaken
nicht, daß ihre Brüder und Schwestern ihn sahen und sich falsche Vorstellungen von dem machten, was sie den ganzen Tag über dort draußen getrieben hatte.
Sie wurde von Gewissensbissen gequält, und zwar aus verschiedenen Gründen. Ihr langes unberechtigtes Fortbleiben von zu Hause war noch das wenigste. Aber sie hatte nichts Unrechtes getan … nicht mit Archy jedenfalls. Es war komisch. Sie hatten den Rest der Nacht zusammen verbracht, sie hatten sogar den ganzen Tag über, fast Seite an Seite, zusammen geschlafen, aber er hatte ihr keine Murmel gegeben. Nicht, daß er es nicht versucht hätte, und nicht, daß sie ihn es nicht wenigstens hätte versuchen lassen; aber der Vorgang der Vereinigung war, wie sie bereits mit Junker Sam herausgefunden hatte, solch eine komplizierte Prozedur, die richtigen Bolzen mit den richtigen Klammern zu packen und dieses Ding neben jenes und dann das andere Ding in jenes runde Dingsbums zu bugsieren, daß Archy im Verlauf all des Manövrierens und Anspannens seine Murmel verloren hatte. Nun, sie war nicht völlig verlorengegangen, sondern noch auf dem Boden herumgerollt, und schließlich hatten die beiden ein Spiel erfunden und sie hin und her kullern und hüpfen lassen.
Archy hatte versucht, die ganze Sache als völlig in Ordnung hinzustellen, und erklärt, er wäre froh, daß es ihm nicht gelungen war, ihr die Jungfernschaft zu rauben, und er hoffte, sie würde Jungfrau bleiben, bis sie heirateten. Er hatte ihr nicht direkt einen Heiratsantrag gemacht; er hatte sie nicht gefragt »Wollen wir uns vereinigen« oder dergleichen. Er hatte bloß gesagt, sie solle Jungfrau bleiben, bis sie es ordentlich und mit dem Segen der Kirche miteinander tun könnten. Natürlich hatte sie ihm nicht gesagt, daß sie schon eine Murmel, Junker Sams Murmel, in sich trug; sie hatte Junker Sam nicht einmal erwähnt.
Als Ausgleich für die Stunden, die sie ansonsten, ordentlich verhakt, verschmolzen und vereinigt ineinander verbracht hätten, hatte Archy ihr praktisch seine ganze Lebensgeschichte erzählt, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: seine Träume von Abenteuern, die er erleben wollte, seine Pläne, die Welt zu erkunden, seine Sehnsucht nach sagenhaften weit entlegenen Häusern, sogar außerhalb von Stay More. Er hatte an einem Stück geredet, ohne ein einziges Mal sich dafür zu interessieren, daß der Mann sich Selbst angeschossen hatte, oder Kummer über die Verwesterung seiner Mutter zu bekunden. Hatte er es vielleicht gar nicht mitbekommen? wunderte sich Tish, ohne ihn zu fragen, ob er Ila Frances Tichbornes gewaltsames Hinscheiden durch die zweite Kugel des Herrn gesehen, gehört oder gerochen habe. Vielleicht war er glücklich über ihre Entrückung, oder vielleicht war es ihm egal; es gab zahllose Knackerlaken, vor allem männliche, die keine emotionale Bindung zu ihrer Mutter hatten.
Junker Sams Mutter war gestorben, als er in seinem vierten Stadium war, aber Sam hatte Tish gegenüber nicht viel von ihr gesprochen; eins der wenigen Dinge, die Sam und Archy gemeinsam hatten, war eine gewisse Gehemmtheit, wenn es um ihre Mütter ging. Tish hatte sich gewünscht, sie würden offener über ihre Mütter sprechen, damit sie von ihrer eigenen Mutter hätte erzählen können, die vor so kurzer Zeit erst verwestert war. Sie brauchte wirklich jemanden, dem sie erzählen konnte, wie sehr sie ihre Mutter geliebt hatte und wie sehr sie sie bereits vermißte. Ihren Vater natürlich auch, aber Jack Dingletoon war kein sonderlich familiärer Mensch gewesen, eher ein sorgloser Trunkenbold, und Tish hatte sich ihm nie sehr nahe gefühlt, nicht so wie ihrer Mutter, auch wenn ihre Mutter ziemlich leichtfertig und manchmal sogar töricht und albern gewesen war.
Manchmal wäre Tish beinahe mit der Frage herausgeplatzt: »Macht dir das mit deiner Mami denn gar nichts aus?«, aber sie hatte den Mund gehalten und ihm das Reden überlassen. Er hatte viel von seinem Vater gesprochen, Bruder Chidiock Tichborne, der sein Vorbild an Männlichkeit und Tugend war, obwohl Archy sich den Versuchen seines Vaters gegenüber, ihn zum »Predigergeschäft« zu überreden, taub gestellt hatte. Zwei von Archys Brüdern bereiteten sich auf das Priesteramt vor, aber Archy hatte sich dagegen entschieden. Natürlich bestand immer die Möglichkeit, daß Archy, sollte er in ein fremdes Land kommen, wo die Leute einen Prediger brauchten, seine Meinung ändern würde. Tish wollte aber doch nicht die Frau eines Priesters
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