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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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mich auch nicht überraschen –, wenn ich mir all diese dummen, traurigen, verschämten Dinge in Erinnerung rufe, die ich tat und die Verliebte immer tun. Ich trieb mich an den Orten herum, wo er sich eventuell sehen lassen würde, und tat dann so, als sähe ich ihn nicht. Ich nahm in Unterhaltungen absurd umständliche Umwege für das bittere Vergnügen, beiläufig seinen Namen fallenzulassen. Ich hing endlosen Tagträumen nach; wenn man es mathematisch ausdrücken möchte, dann verbrachte ich etwa zehn Mal so viel Zeit damit, an Martin Collingwood zu denken – ja, schmachtend um ihn zu weinen –, wie ich je mit ihm zusammen verbrachte; meine Gedanken wurden erbarmungslos und nach einer Weile gegen meinen Willen von ihm beherrscht. Denn wenn ich meine Gefühle anfangs dramatisiert hatte, so kam eine Zeit, da wäre ich froh gewesen, ihnen zu entfliehen; meine abgenutzten Tagträume waren deprimierend geworden und spendeten auch kurzzeitig keinen Trost mehr. Während ich meine Mathematikaufgaben löste, folterte ich mich selbst, unwillkürlich und völlig mechanisch, mit genauen Erinnerungen daran, wie Martin meine Kehle küsste. Ich hatte genaue Erinnerungen an alles . Eines Abends spürte ich den Drang, sämtliche Aspirintabletten im Badezimmer zu schlucken, hörte aber auf, nachdem ich sechs genommen hatte.
    Meine Mutter merkte, dass etwas nicht stimmte, und besorgte mir Eisentabletten. Sie fragte: »Bist du sicher, dass in der Schule alles gut läuft?« In der Schule! Als ichihr erzählte, dass Martin und ich uns getrennt hatten, sagte sie nur: »Na, umso besser. Ich habe noch nie einen so selbstverliebten Bengel gesehen.« – »Martins Selbstherrlichkeit ist groß genug, um ein Kriegsschiff zu versenken«, sagte ich verdrossen, ging in mein Zimmer hinauf und weinte.
    Der Abend, an dem ich zu den Berrymans ging, war ein Samstagabend. Ich passte oft am Samstagabend auf ihr Baby auf, denn sie fuhren gerne nach Baileyville hinüber, einer etwa zwanzig Meilen entfernten, wesentlich größeren und belebteren Stadt, um essen zu gehen und vielleicht anschließend ins Kino. Sie wohnten erst seit zwei oder drei Jahren in unserer Stadt – Mr. Berryman war als Betriebsleiter der neuen Türenfabrik hierher versetzt worden – und blieben, vermutlich aus freien Stücken, am Rande der hiesigen Gesellschaft; die meisten ihrer Freunde waren jüngere Paare wie sie selbst, die woanders geboren worden waren und in neuen, stilisierten Ranchhäusern wohnten, auf einem Hügel außerhalb der Stadt, wo wir früher gerodelt waren. An diesem Samstagabend hatten sie zwei andere Paare auf einen Drink zu sich gebeten, bevor sie alle zusammen zur Eröffnung eines neuen Tanzlokals nach Baileyville fuhren; alle waren recht festlich gestimmt. Ich saß in der Küche und gab vor, Latein zu lernen. Am Abend zuvor war in der Highschool Frühlingsball gewesen. Ich war nicht hingegangen, denn als Einzigerhatte mich Millerd Crompton aufgefordert, ein Junge, der so viele Mädchen aufgefordert hatte, dass er im Verdacht stand, sich alphabetisch durch die ganze Klasse zu arbeiten. Der Ball fand im Zeughaus statt, das nur ein paar Häuser von uns entfernt war; ich hatte sehen können, wie die Jungen in dunklen Anzügen und die Mädchen in langen hellen Abendkleidern unter den Mänteln im Licht der Straßenlaternen gemessenen Schritts um die letzten Schneehaufen herumgingen. Ich konnte sogar die Musik hören und habe bis heute nicht vergessen, dass »Ballerina« gespielt wurde und – ach, der Schlager meines wehen Herzens – »Slow Boat to China«. Joyce hatte mich dann am Morgen angerufen und mir tuschelnd (als redeten wir über eine unheilbare Krankheit, die mich ereilt hatte) erzählt, ja, M. C. war tatsächlich mit M. B. dort gewesen, und sie hatte ein Abendkleid getragen, das aus einer alten Spitzendecke geschneidert worden sein musste, es hing nur runter.
    Als die Berrymans und ihre Freunde aufgebrochen waren, ging ich ins Wohnzimmer und blätterte in einer Zeitschrift. Ich war zu Tode deprimiert. Der große, sanft beleuchtete Raum mit seinen grünen und laubbraunen Farben bot eine unverstellte Plattform für die Entwicklung von bühnenreifen Gefühlen. Zu Hause gab es das Gefühlsleben zwar auch, aber es war immer begraben unter Bergen von Sachen, die gestopft undgebügelt werden mussten, unter den Puzzlespielen und Steinsammlungen der kleineren Geschwister. Es war ein Haus, in dem man auf der Treppe ständig mit anderen

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