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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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zusammenstieß und wo überall das Radio lief, entweder mit Übertragungen von Hockeyspielen oder mit den Abenteuern von Superman.
    Ich stand auf und entdeckte unter den Schallplatten der Berrymans eine Aufnahme vom »Danse Macabre«, legte sie auf den Plattenspieler und knipste im ganzen Wohnzimmer das Licht aus. Die Vorhänge waren nur halb zugezogen. Eine Straßenlaterne schien schräg auf die Fensterscheibe, so dass sich ein Rechteck aus dünnem, staubigem Gold bildete, in dem sich die Schatten der kahlen Zweige bewegten, ganz nach dem Willen der kräftigen, süßen Frühlingswinde. Es war eine milde, schwarze Nacht, die den letzten Schnee schmelzen ließ. Ein Jahr früher hätte all das – die Musik, der Wind und die Dunkelheit, die Schatten der Zweige – mir großes Glück gespendet; als es das jetzt nicht tat, sondern nur die altvertrauten, irgendwie demütigenden privaten Gedanken wachrief, erklärte ich meine Seele für tot, marschierte in die Küche und beschloss, mich zu betrinken.
    Nein, so war es nicht. Ich ging in die Küche, um mir aus dem Kühlschrank eine Cola oder so etwas zu holen, und vorn auf der Anrichte standen schöne, schlanke Flaschen, alle etwa halb voll Gold. Aber sogar nachdem ich sie betrachtet und angehoben hatte, um ihr Gewicht zu prüfen, hatte ich noch nicht beschlossen, mich zu betrinken; ich hatte beschlossen, mir ein Glas zu genehmigen.
    Hier kommt nun meine Unwissenheit, meine katastrophale Unschuld ins Spiel. Wohl hatte ich die Berrymans und deren Freunde ihre Highballs so natürlich trinken sehen, wie ich eine Cola getrunken hätte, aber ich machte mir diese Haltung nicht zu eigen. Nein; ich dachte an Schnaps als etwas, das man in Notsituationen zu sich nahm, im Vertrauen auf eine außerordentliche Wirkung. Mein Vorgehen hätte nicht bedachtsamer sein können, wäre ich die kleine Seejungfer mit dem kristallklaren Zaubertrank der Hexe gewesen. Feierlich, mit Blick auf mein entschlossenes Gesicht in dem schwarzen Fenster über der Spüle, goss ich etwas Whisky aus jeder der Flaschen ein (ich glaube inzwischen, es waren zwei Sorten Rye und ein teurer Scotch), bis mein Glas voll war. Denn ich hatte noch nie im Leben jemanden Whisky einschenken sehen und hatte keine Ahnung, dass man ihn oft mit Wasser, Soda und so weiter verdünnte, außerdem hatte ich auf meinem Weg durchs Wohnzimmer gesehen, dass die Gläser in den Händen der Berrymans und ihrer Gäste nahezu voll waren.
    Ich trank das Glas so schnell wie möglich aus. Ich stellte es hin und betrachtete mein Gesicht im Fenster,erwartete halb, eine Veränderung darin zu sehen. Mein Hals brannte, aber sonst fühlte ich nichts. Es war sehr enttäuschend, nachdem ich so viele Anstalten getroffen hatte. Aber ich hatte nicht vor, es dabei bewenden zu lassen. Ich goss noch ein Glas voll, dann füllte ich alle Flaschen mit Wasser auf bis ungefähr zu der Höhe, die ich vorgefunden hatte. Ich trank das zweite Glas nur unwesentlich langsamer aus als das erste. Ich stellte das leere Glas sorgfältig auf die Anrichte, spürte vielleicht in meinem Kopf schon die kommenden Dinge rascheln, ging und setzte mich in einen Sessel im Wohnzimmer. Ich knipste eine Stehlampe neben dem Sessel an, und das Zimmer fiel über mich her.
    Wenn ich sage, dass ich eine außerordentliche Wirkung erwartete, meine ich damit nicht, dass ich dies erwartet hatte. Ich hatte mir einen großen seelischen Umschwung vorgestellt, eine Aufwallung von Heiterkeit und Leichtsinn, ein Gefühl von Gesetzlosigkeit und Flucht, begleitet von leichtem Schwindel und vielleicht von einer Neigung, laut zu kichern. Ich hatte mir nicht vorgestellt, dass die Decke sich drehen würde wie ein großer Teller, den jemand nach mir geworfen hatte, oder dass die blassgrünen Kleckse der Sessel anschwellen, miteinander verschwimmen und sich auflösen würden und mit mir ein Spiel voll ungeheurer, sinnloser, unbelebter Bosheit treiben würden. MeinKopf sank zurück; ich schloss die Augen. Und öffnete sie sofort wieder, riss sie weit auf, rappelte mich aus dem Sessel hoch, stürzte den Flur hinunter und erreichte – Gott sei Dank! – das Badezimmer der Berrymans, das ich gründlich vollkotzte, dann fiel ich zu Boden wie ein Stein.
    Von diesem Zeitpunkt an habe ich keine fortlaufenden Bilder mehr von dem, was geschah; meine Erinnerungen an die nächsten ein oder zwei Stunden sind in lebhafte und unwahrscheinliche Einzelteile aufgespalten, mit nichts als Nebel und Ungewissheit dazwischen.

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