Tanz der Sinne
Lucien körperlich und seelisch am Ende. Seine Schulter schmerzte von dem Hieb, den Kira ihm versetzt hatte, sein Knöchel tat entsetzlich weh, und die lange Anspannung der Nacht forderte ihren Tribut.
Instinktiv wandte er sich an Kit.
Sie war bei Kira, ihre Gesichter wie Spiegelbilder.
Die Schwestern klammerten sich nicht mehr aneinander wie zuvor, aber ganz offensichtlich verband sie eine Nähe, die jeden anderen ausschloß.
Zögernd sagte er: »Bist du in Ordnung, Kit? Mace hat dir doch nichts angetan?«
Sie sah ihn mit stumpfen, undurchdringlichen grauen Augen an. »Danke, mir geht es gut. Er hatte keine Zeit, irgend etwas zu tun.«
Schlimmer als ihre steifen Worte war die bittere Erkenntnis, daß sie das stumme Band, das es zwischen ihnen gab, gekappt hatte. Wie stark es geworden war, merkte er erst jetzt, wo es verschwunden war und eisige Leere hinterließ.
Er fragte sich, wie Jason in diese Gleichung hineinpaßte. Vielleicht erwartete er nicht soviel von Kira wie Lucien von Kit. In diesem Fall mochte er vollkommen glücklich sein, ohne je zu wissen, was ihm entging. Wenn er sie bedrängte, würde Kit vielleicht seine Frau werden, aus Dankbarkeit, wenn schon aus keinem anderen Grund. Aber alles, was ihm an ihr etwas bedeutete, war dahin, denn sie hatte nie wirklich ihm gehört.
Er unterdrückte den Schmerz, bevor er ihn überwältigen konnte, und sah sich zu Chiswick um. »Wir werden jetzt gehen. Wollen Sie sich um das Chaos hier kümmern? Sie waren daran beteiligt, und Sie und die anderen haben am allermeisten zu verlieren, falls das Ganze in einen öffentlichen Skandal ausartet.«
Chiswick wirkte überrascht und dann nachdenklich. »Wenn bekannt würde, daß Nunfield, Mace und Harford bei einem Unfall auf den eisigen Straßen ums Leben gekommen sind, wäre das traurig, aber nicht aufsehenerregend.«
Er sah seine Gefährten an. »Stimmen Sie mir zu?«
Erleichtertes Gemurmel. Nach den Gesichtern der anderen Jünger zu urteilen, hatten die Ereignisse der Nacht diese speziellen Anhänger des Lasters davon überzeugt, sich in Zukunft
konventionelleren Spielen zu widmen.
»Da wir gerade beim Thema sind«, sagte Chiswick, »meine Kutsche hat besondere Räder, die bei Eis und Schnee besonders dienlich sind.
Wenn Sie wollen, können Sie sie für die Damen ausborgen.« Er warf Kit und Kira einen Blick zu.
»Ich glaube, sie haben genug erduldet für heute nacht.«
Lucien nahm das Angebot an, und innerhalb einer Viertelstunde waren sie auf dem Weg. Kit wich seinem Blick aus, selbst als er ihr in die Kutsche half. Sie hätte nicht zurückhaltender sein können, wenn sie sich eben erst kennengelernt hätten.
Michael kutschierte, während Lucien und Jason zu Pferd folgten. Der eisige Regen hatte aufgehört, die Temperatur war gesunken und hatte die Welt in ein glitzerndes Märchenland aus Eis verwandelt.
Lucien war dankbar für die beißende Kälte, die der seines Herzens entsprach. Er dachte an den Abend in Eton zurück, als er zu Lucifer geworden war – kühl, ironisch, unbeteiligt, jedem Schmerz weit entrückt. Damals hatte es funktioniert, und das würde es auch jetzt. Schließlich hatte er genug Übung.
Nachdem er seinen Kummer sicher im Griff hatte, fand er eine müde Art Frieden. Auch wenn Kit ihm entglitten war und seine Träume mit sich genommen hatte, so hatte er doch heute ein kleines Maß an Vergebung dafür gefunden, daß er das Leben seiner Schwester nicht hatte retten können.
Kapitel 39
Zuerst saßen Kit und Kira schweigend in der Kutsche, zufrieden, einander einfach bei der Hand zu halten. Statt ihres Capes, das in dem Labyrinth von Gängen verloren gegangen war, trug Kit über ihrem unmöglichen Kostüm einen Umhang, den Chiswick ihr geliehen hatte. Sein üblicher Zynismus war verflogen. Sie vermutete, daß er versuchte, sein Versagen wiedergutzumachen.
Gnadenlos unterdrückte sie die Erinnerung an den Moment, als Lucien Kira umarmt und gesagt hatte, daß sie genauso war, wie Kit sie beschrieben hatte. Immerhin hatte sie so etwas erwartet. Wenn sie sich gestattete, ihren Schmerz zu fühlen, würde sie zusammenbrechen, und dazu wollte sie lieber allein sein. Jetzt wollte sie das Zusammensein mit ihrer Schwester genießen. Für Kummer war später noch Zeit.
Das Schweigen wurde gebrochen, als Kira mit zitternder Stimme sagte: »Ich habe gerade einen Mann umgebracht. Ich sehe das Blut vor mir, und sein Gesicht…«
»Bravo«, sagte Kit grob. »Ganz abgesehen von Maces anderen
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