Tanz der Sinne
ihm war nicht nach Feiern zumute. Michael hatte die Stirn gerunzelt, als er sich entschuldigte, aber nichts gesagt. Freundschaft bedeutete genauso, im rechten Moment zu schweigen wie im rechten Moment zu reden.
Er öffnete die Flügeltüren und trat auf den kleinen Balkon. Der Wind war grausam kalt, aber der Sturm war vorbei, und der Mond stand hoch am Himmel. Sein weißes Licht brach sich strahlend in dem Eis, das auf Zweigen und Ästen glitzerte. Eis überall, ganz besonders in seinem Herzen.
Er lehnte sich an das Geländer und starrte hinaus in die kristallene Nacht. Langsam nippte er an seinem Brandy. Vielleicht konnte er hinterher schlafen.
Kit half ihrer Schwester, das Kostüm aus- und ein schlichtes blaues Kleid anzuziehen. Mit offenem, gebürstetem Haar war Kira wunderschön, mit ihrer eigenen, ganz speziellen Wärme. Ganz so, wie eine Frau aussehen sollte, die zu ihrem Geliebten ging. Kit vermutete, daß Kira und Jason morgen früh, wenn sie die beiden wiedersah, zum erstenmal seit Jahren miteinander im reinen sein würden. Zumindest Kira.
Dann wollte sie sich selber umziehen, aber sobald ihre Schwester ihr Zimmer verlassen hatte, überkam sie rasende Angst. Irgend etwas stimmte nicht mit Lucien.
Erst als Kit versuchte, ihn zu erreichen, und nichts als Schweigen fand, merkte sie, wie sehr sie sich an seine ständige Anwesenheit in ihren Gedanken gewöhnt hatte, genau wie an die ihrer Schwester.
Die jetzige Leere fühlte sich anders an als damals, als sie geglaubt hatte, ihre Schwester sei tot. Es war, als habe er eine Tür zugeschlagen, die er ihr vorher allmählich geöffnet hatte.
In plötzlicher Panik griff sie nach dem Cape und rannte den eisigen Gang entlang zu Luciens Zimmer. Vielleicht war er verärgert, weil sie weggelaufen war und sich hatte fangen lassen.
Als es geschah, hatte sie genausowenig Kontrolle über sich wie eine Schlafwandlerin, aber ihr Verhalten hatte alles sehr viel komplizierter gemacht. Wenn sie und Lucien
zusammengeblieben wären, hätten sie Kira vielleicht ohne Blutvergießen befreien können –
nicht daß Mace und die anderen ein großer Verlust für die menschliche Gesellschaft gewesen wären.
Sie verlangsamte ihren Schritt, als sie sich seinem Raum näherte. Was, wenn er sie wirklich nicht wollte? Was dann…?
Bevor sie die Nerven verlieren konnte, klopfte sie energisch an seine Tür. Keine Antwort. Leise drückte sie die Klinke herunter und trat ein.
Die Lampe brannte, und das Bett war aufgeschlagen, aber er lag nicht darin. Kälte strömte vom Fenster ins Zimmer. Sie sah hinaus und entdeckte Lucien auf dem Balkon, mit dem Rücken zu ihr.
Er mußte das Klopfen gehört haben, denn er sagte, ohne sich umzudrehen: »Du brauchst nicht nach mir zu sehen, Michael. Mir fehlt nichts, was eine ungestörte Nacht nicht bessern würde.«
Unsicher sagte sie: »Geht es dir nicht gut, Lucien?«
Seine breiten Schultern wurden steif. Nach langem Zögern drehte er sich um und lehnte sich lässig an das Geländer. Er sah kühl und elegant aus, ohne eine Spur des früheren Kriegers. »Ich bin nur müde, Kit. Es war eine anstrengende Nacht.«
Sie ging auf ihn zu. Sie raffte das Cape enger, um sich gegen die bittere Kälte zu schützen, und dabei fiel ihr ein, daß sie genauso gekleidet war wie vorhin ihre Schwester. Von dem Wunsch erfüllt zu wissen, ob er sie auseinanderhalten konnte, schenkte sie ihm Kiras Lächeln und Kiras Glanz. »Bist du sicher, daß ich Kit bin?«
Wohl wissend, daß er auf die Probe gestellt wurde, sagte er sarkastisch: »Natürlich, selbst wenn du immer noch die Rolle von Cassie James spielst.« Sein Blick glitt über das Cape. »Ich nehme an, daß ihr eure Capes getauscht habt, weil Kira nichts haben wollte, das von Mace kommt.«
Daß er sie mühelos voneinander unterscheiden konnte, war eine Erleichterung. Und offenbar konnte er ihre Gedanken immer noch erraten.
Aber seine Miene war ebenso distanziert und unnahbar wie der gefallene Erzengel seines Spitznamens. Das schweigende Einverständnis, das zwischen ihnen geherrscht hatte, war so vollkommen verschwunden, als habe es nie existiert.
Einen Augenblick lang war sie sicher, Kira habe ihn wirklich so bezaubert, daß er hoffte, sie, Kit, würde stillschweigend aus seinem Leben verschwinden. Natürlich, wenn sie ihm sagte, daß sie schwanger war, würde er sie heiraten. Aber das war nicht die Ehe, die sie sich wünschte.
Ihr Mund wurde schmal. Sie hatte nie aufgegeben, nach Kira zu suchen, und jetzt
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