Tanz der Sterne - Unter dem Weltenbaum 03
lief den Gang hinunter und verschwand rasch hinter der ersten Biegung.
»Was würde diese Frau für Zauberer gebären«, murmelte Sternenströmer so leise, daß Axis glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. »Wenn ich mir auf eine Fähigkeit etwas einbilden darf, dann auf die, gute Anlagen zu erkennen.«
Damit wandte er sich an seinen Sohn. »Im Verlauf der letzten tausend Jahre ist das Blut der Ikarier dünner geworden. Vor den Axtkriegen, die unsere Völker voneinander getrennt haben, haben viele Ikarier beschlossen, sich von Menschenfrauen Söhne schenken zu lassen. Das menschliche Blut verleiht den Ikariern zusätzliche Vitalität. Dafür seid Ihr schließlich der beste Beweis.«
Der Krieger spürte Zorn in sich. Beabsichtigte sein Vater etwa, eine weitere Ebenenläuferin zu verführen?
»Ich liebe Rivkah über alles«, versicherte der Zauberer ihm, »und habe ihr das auch deutlich bewiesen, indem ich sie heiratete. Auch wenn ich glauben mußte, sie habe unseren gemeinsamen Sohn verloren. In früheren Zeiten haben die Ikarier einfach den Säugling genommen, der aus ihrer Verbindung mit einer Menschenfrau entstanden war, und dann keinen Gedanken mehr an die Schöne verschwendet, mit der sie sich einmal vergnügt hatten.«
Axis zeigte sich entsetzt über soviel Roheit und konnte zum ersten Mal den Haß und den Abscheu verstehen, der die Menschen schließlich dazu bewegt hatte, die Ikarier aus Achar zu vertreiben.
Die Vogelmenschen hatten noch eine Menge über das Miteinander mit anderen Völkern zu lernen.
3 D ER W OLFEN
Aschure schritt durch das verwirrende Labyrinth der Gänge und Schächte im Krallenturm und konnte nur hoffen, sich Abendlieds Wegbeschreibung gut genug eingeprägt zu haben. Über tausend Jahre lang hatten die Ikarier Tunnel gegraben und den Berg weiter ausgehöhlt, um hier unzählige Kammern, Verbindungsgänge und Schächte zu schaffen. Die Vogelmenschen hatten nicht nur horizontale Wege, sondern auch vertikale Wege geschaffen. Als reine Fußgängerin mußte sie sich hier ständig vor tiefen Schächten in acht nehmen.
Die junge Frau blieb vor einem der Hauptverbindungsschächte stehen, der auf einer Seite bis hinauf zum Gipfel und auf der anderen in schwindelerregende Tiefen hinabführte. Sie hielt sich am hüfthohen Geländer fest und spähte nach unten. Zwei Ikarier trieben langsam und nebeneinander hinab und befanden sich bereits mehrere Stockwerke unter ihr. Beide trugen wunderbare smaragdgrüne und blaue Flügel, und das weiche Zauberlicht im Schacht schimmerte auf ihren edelsteinglitzernden Federn. Bei so viel Schönheit kamen Aschure die Tränen, und sie blinzelte mehrmals, um sie nicht herausströmen zu lassen. In ihrem zurückliegenden Leben in Smyrdon hatte sie nichts darauf vorbereitet, einmal soviel Pracht und Leidenschaft wie hier im Berg der Vogelmenschen mitzuerleben.
Schon bei ihrer Ankunft vor nunmehr sechs Wochen hatte die junge Ebenenbewohnerin über die Höhe und Breite der Gänge gestaunt. Die unglaubliche Weitläufigkeit der Anlage erkannte sie aber erst, als sie beobachten konnte, wie einige Ikarier den Flur sogar noch über ihr durchflogen. Zu Aschures Glück wiesen die geraden Gänge Stufen auf. Ikarische Kinder entwickelten erst im Alter von vier oder fünf Jahren Flügel, und erst mit acht oder neun beherrschten sie das Fliegen. Und wenn sich ein Vogelmensch am Flügel verletzt hatte, blieb ihm auch nicht viel anderes übrig, als die Gänge zu Fuß zu betreten oder sich auf Treppen nach oben oder nach unten zu bemühen. Morgenstern, Sternenströmers Mutter, gehörte zu diesen Bedauernswerten. Sie hatte schon nicht am Jultidenritus teilnehmen können, weil sie sich am linken Flügel eine Sehne gezerrt hatte und sie murrte immer noch darüber, wie unwürdig es sei, sich über Stufen bewegen zu müssen.
Aschure verließ den Schacht und trat in den Gang, in dem sich die große Bibliothek des Krallenturms befand. Der Aware Ramu pflegte hier seine gesamte freie Zeit zu verbringen und lehrte die noch flügellosen Jüngsten alles über die Lebensart der Waldläufer und der Beschaffenheit ihrer Welt. Die junge Frau mußte an Rivkah denken. So viele Jahre kannten sie sich schon – auch wenn Axis’ Mutter sich bis vor kurzem noch Goldfeder genannt hatte –, aber Aschure hatte die mütterliche Freundin noch nie so im Reinen und Frieden mit sich selbst erlebt wie nun, da sie mit Axis Zusammensein konnte. Die ehelichen Sorgen mit Sternenströmer mochten unverändert
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