Tanz der Sterne - Unter dem Weltenbaum 03
einzig mögliche Erklärung zu sein.« Er seufzte, und seine Augen nahmen langsam wieder Farbe an. »Und Ihr habt es ihm versprochen, ohne so recht zu wissen, wie Ihr das erfüllen sollt.« Er führte den jungen Mann aus der Halle und den langen, halbdunklen Gang hinunter bis zu seinem Boot.
»Das Tor, das ihr meint, ist nicht das Sternentor, sondern gehört zu den geheimnisvollsten Mysterien der Charoniten, ist vielleicht sogar ihr bedeutendstes. Wenn ich Euch dorthin fahren soll, müßt Ihr mir bei allem, was Euch heilig ist, versprechen, niemals ein Wort darüber zu verlieren. Zu niemandem, nicht einmal Euren engsten Familienmitgliedern!« Orr hatte ihn am Arm gefaßt, und seine Finger preßten sich bei den letzten Worten immer fester in sein Fleisch. Axis hielt das Boot, damit der Fährmann einsteigen konnte. »Ich verspreche es Euch bei allem, was mir heilig ist.« Dann kletterte er hinter dem Mann in den Nachen und setzte sich in seinen Bug.
»Hmm«, machte der Charonite und schob die Kapuze ein Stück zurück; etwas, das er noch nie zuvor in Gegenwart seines Lehrlings getan hatte. »Seid Ihr Euch absolut sicher, dorthin zu wollen?«
»Ja.«
Orr strich seinen Umhang glatt. »Dann bringe ich Euch zum Tor, junger Sonnenflieger, und vielleicht wartet Freierfall dort tatsächlich auf Euch. Aber dann müßt Ihr noch die Torwächterin überzeugen. Sie ist die einzige, die eine Seele ins Leben zurückversetzen könnte. Und ich habe noch nie davon gehört, daß sie das einmal getan hätte. Wenn wir dort sind, sprecht Ihr nur, wenn ich Euch dazu auffordere. Und bitte, faßt nichts an.«
Der Kahn setzte sich langsam in Bewegung, und für eine Weile fuhren sie über verschiedene Wasserwege dahin. Sterne funkelten im grünen Naß, und die glatten Tunnelwände wurden immer wieder von großen grauen Höhlen abgelöst. Doch plötzlich, so unvermittelt, daß Axis gar nicht wußte, wann die Verwandlung eingesetzt hatte, steuerten sie auf einer großen Fläche stumpfen schwarzen Wassers. Hier ließen sich auch keine Wände mehr erkennen, und das Dach schien in unvorstellbare Höhen entschwunden zu sein. Sie trieben auf diesem
Pechsee dahin, und rings um sie herum herrschte nichts als Finsternis. Nur das Geräusch des dahingleitenden Bootes bewies dem Krieger, daß sie sich immer noch im Wasser befanden und nicht etwa durch eine Leere flogen.
Ein bleiches Etwas fiel dem jungen Mann ins Auge.
Als er genauer hinsah, erkannte er eine weinende junge Frau, die ein kleines Kind in den Armen hielt. Die beiden wirkten substanzlos wie Nebel und schwebten eine Handbreit über dem See. Hinter der jungen Mutter tauchte eine weitere, ähnliche Gestalt auf, die Axis aber beim
besten Willen nicht näher erkennen konnte.
»Wir befahren den Fluß des Todes«, erklärte ihm der Fährmann. »Wenn Ihr das Wasser berührt, müßt Ihr sterben.«
Erschrocken legte der Krieger sofort die Hände in den Schoß. Aber nach einem Moment mußte er wieder nach der Frau und dem Säugling sehen.
»Sie ist bei der Geburt gestorben«, teilte der Charonite ihm mit. »Und jetzt weint sie um das Leben, das ihr und ihrem Kind verweigert wurde.« Er schwieg und bemerkte nach einer Weile: »In der Nacht, in der die Stadt Gorken fiel und der Angriff auf das Jultidenfest stattfand, wimmelte es im Fluß vor Toten – Ikariern, Awaren und Achariten.«
Axis sah ihn fragend an.
»Ja, mein junger Freund, alle Toten reisen über den Fluß des Todes. Sogar Skrälinge. Der Tod macht alle zu Brüdern und Schwestern.«
Orrs Augen leuchteten jetzt, und er beugte sich vor:
»Seht hinter Euch, Axis, wir nähern uns dem Tor.« Der Krieger drehte sich auf seinem Sitz im Bug um.
Das Boot trieb rasch auf eine große Insel zu, die sich sanft aus dem Gewässer erhob und in ihrer Mitte immer höher anstieg. An der höchsten Stelle befand sich ein großes Viereck aus reinem Licht – ungefähr so breit wie eine Tür und etwa doppelt so hoch.
Im nächsten Moment schon schabte der Bootsboden über Kiesel, und sie waren da. Hinter ihnen schwebte die junge Frau mit ihrem Kind, so als wolle sie ebenfalls zur Insel.
»Ihr müßt allein hinauf, Axis«, erklärte ihm Orr. »Am Tor trefft Ihr die Wächterin an. Tragt Euer Begehr vor, aber fragt sie auf gar keinen Fall, was sich jenseits des Tores befindet. Wenn Ihr das nämlich tut, müßt Ihr hindurch, ob Ihr tot seid oder lebendig.«
»Danke. Werdet Ihr hier auf mich
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