Tanz des Lebens
schlüpfte sie schwerfällig in ihre Sandalen. Gott, sie fühlte sich wie abgestorben. Wünschte sich, dass der Tag zuende ging. Jetzt und sofort. Damit sie keine neuen Geschichten mehr hören musste. Der Wind strömte jetzt über das Meer und mischte sich mit Shivas Worten.
»Weißt du, Faye, jeder Mensch hat eine Aufgabe im Leben. Es gibt sensitive und mediale Menschen. Aber egal, welche Gabe man in sich hat, irgendwann muss man sie annehmen. Manchmal ist der innere Geist eines Menschen eher bereit, das Unfassbare anzunehmen und zu akzeptieren, als der Verstand es ist. Doch irgendwann spüren die Auserwählten ihre inneren Kräfte und fühlen, welche besondere Gabe sie besitzen. In diesem Augenblick werden die magischen Kräfte erwachen, man muss es nur zulassen.«
Faye merkte, dass sie am Ende ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt war. Alles erschien ihr surreal; alle waren komisch: Quin, Liam, Jhonfran und jetzt auch noch Shiva. Selbst Mom und Onkel Mason hatten sich verändert. Aber sie hatte jetzt keine Kraft mehr, weiter darüber nachzudenken. Sie konnte nicht mehr.
»Ich bin müde und möchte jetzt nach Hause, wir reden morgen weiter«, würgte sie hervor. Dann drehte sie sich um und lief wie von Furien gehetzt die Dünenböschung hoch.
Luke hörte seine aufmerksam Voicemail ab, auf die Faye ihm eine Nachricht gesprochen hatte. Er wusste, wenn sie zum Strand hinunter wollte, war sie gefühlsmäßig nicht gut drauf. Dann konnte es auch länger dauern, bis sie wieder zurückkam. Zum Glück befand er sich in seiner gewohnten Umgebung, so dass er niemanden um Hilfe bitten musste.
Faye hatte gestern Abend beschlossen, zu ihnen nach Hause zu fahren, die Nacht dort zu verbringen und saubere Wäsche zum Wechseln mitzunehmen. Und sich bei Mrs Duval sehen zu lassen, bevor diese noch eine Vermisstenanzeige aufgab, auch wenn Faye ihr vorgeflunkert hatte, dass sie bei Onkel Mason übernachteten, bis ihr Vater wieder nach Hause kam.
Heute Abend würden sie wieder zu Liam fahren, bevor der einen Herzanfall bekam. So langsam fand es Luke etwas lästig, so viele Menschen auf einmal zufriedenstellen zu müssen. Aber jetzt war er in seinem eigenen Zimmer und musste jetzt nicht mehr ununterbrochen freundlich lächeln, um allen etwas vorzuspielen. Nach einer Weile zuckte er mit den Schultern und lenkte seinen Gedanken wieder in die Realität zurück.
Er hatte, genau wie Faye, in den letzten Tagen schlecht geschlafen. Auch ihn quälten jede Nacht die dämonischen Alpträume. Umso mehr freute er sich jetzt auf einen gemütlichen Tag ohne Stress mit Quin. Voller Vorfreude hielt er sich am Geländer fest und ging langsam die Treppenstufen hinunter. Anschließend lief er in die Küche, öffnete den Kühlschrank und holte sich eine Banane heraus. Danach tastete er sich durch den Hinterausgang der Küche.
Nachdem er die Treppenstufen überwunden hatte, zählte er die neunundachtzig Schritte ab, bis er vor sich das hölzerne Gelände des Stegs mit seiner Hand erfühlte. Langsam ging er hinauf, zählte noch einmal sechs Schritte ab. Dann setzte er sich aufatmend auf den Holzsteg und ließ seine nackten Füße in den Schwimmteich baumeln. Es hatte zwar einen großen Respekt vor Wasser, aber diesen Teich hatte sein Vater angelegt, gleich nachdem er das Anwesen gekauft hatte.
Der Teich war Luke so vertraut wie der Garten und das gesamte Haus. Nachdenklich aß er seine Banane und dachte über die verkorkste Situation nach, in der sie sich befanden. Er hatte sich zwar mit seiner Blindheit notgedrungen abgefunden, aber jetzt würde er alles darum geben, etwas zu sehen, damit Faye nicht alleine gegen die Natdämonen ankämpfen musste.
Er wusste, dass seine Schwester um seinetwillen stark war, aber er spürte sehr wohl, dass es sie seelisch sehr belastete. Stärke – bei diesem Wort kamen Erinnerungen an seine Mutter an die Oberfläche. Er war knapp ein Jahr alt und befand sich alleine mit seiner Mutter im Garten, da Faye im Kindergarten war. Violet Hamilton hatte sich an diesem Tag in den Kopf gesetzt, dass er laufen lernte.
Seine Mutter kam auf ihn zu und kniete sich neben ihn: »Hör mir jetzt gut zu, Luke! Ich zeig’s dir einmal . Beim zweiten Mal helfe ich dir. Beim dritten Mal musst du allein klarkommen. So ist das nun mal auf dieser Welt.«
Nachdem er unzählige Male auf seinem Windelpopo gelandet war –seine Mutter kam ihm tatsächlich nicht zur Hilfe – traten Tränen der Wut in seine Augen und ihre gefühlskalten
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