Tanz des Lebens
anfingen, konnten wir diese Auswirkungen nicht ahnen. Keiner konnte das, weder dein Vater noch Shiva … noch ich. Aber vielleicht helfen uns die Aufzeichnungen eures Vaters weiter, sie müssten irgendwo in seinem Arbeitszimmer liegen.«
Luke stupste seine Schwester an und bedeutete ihr, dass er aufstehen wollte. Nur widerwillig löste Faye sich von seinem warmen, beschützenden Rücken. »Komm mit«, rief er über seine Schulter Melissa zu. »Ich zeige dir das Arbeitszimmer meines Vaters.« Leichtfüßig sprang diese auf die Beine und hakte sich wie selbstverständlich bei ihm ein. Ohne ihn beim Zählen seiner Schritte zu unterbrechen verschwanden beide im Haus.
Nachdenklich spielte Faye mit den seidenen Kordeln ihrer Bluse, bis sie sich zu einer anderen Frage durchrang: »Kannst du mir den Unterschied zwischen sensitiven und medial veranlagten Menschen erklären?« Liam stand auf und setzte sich auf Lukes Platz. Doch seine Hoffnung zerplatzte, denn Faye setzte sich ruckartig auf und ließ ihre Beine ins Wasser baumeln. Mit enttäuschter Miene starrte er auf die Seerosen im Gartenteich.
»Also, ich würde sagen, ein sensitiver Mensch nimmt mehr aus seinem sichtbaren Umfeld auf. Geht also ein wenig in Richtung Empathie, so wie ich das bei Luke vermute. Hier würde ich neben Gefühlen aber auch beispielsweise ein überdurchschnittliches Verständnis für Probleme und deren Lösungen einordnen. Ein Gespür dafür, was welcher Mensch oder welches Tier gerade braucht, was ja noch über reine Empathie hinausgeht. Ein medialer Mensch nimmt Dinge der nicht-sichtbaren Welt auf. Diese Menschen können sich mit jeder Wesenheit in Verbindung setzen, seien es Ice Whisperer oder eben Nätdämonen.«
Unsicher biss Faye sich auf die Lippen. »Es ist bestimmt nicht einfach, so zu leben … Ich meine, Menschen mit einer besonderen Gabe müssen ziemlich einsam sein in ihrer Welt, zu der normale Menschen keinen Zutritt haben und auch nichts davon wissen dürfen.«
Liam lächelte schief. »Ja, genauso fühle ich mich auch oft. Das ist der Unterschied zu meinem Bruder. Der braucht keinen anderen Menschen. Der ist sich selbst genug.« Faye seufzte auf. Nachdenklich beugte sie sich vor und brach eine rosaschimmernde Rosenblüte vom Strauch. Zart strich sie über die leicht pelzigen Blätter. »Auf die Dauer wird das ziemlich einsam werden.«
Schweigend presste Liam seine Finger gegeneinander. »Ja, kann schon sein. Trotzdem bevorzugt Quin die Einsamkeit. Ich glaube, der weiß gar nicht, wie es ist, mit einem Mädchen so richtig zusammen zu sein, außer für Sex, meine ich.«
Eine Biene, vom Blütennektar angezogen, flog langsam näher. Mit geschlossenen Augen rollte Faye den Stiel zwischen ihren Fingern. Die filigranen Blätter drehten sich wie ein Kreisel im warmen Sonnenlicht. Das Summen entfernte sich. Die gelben Pollen der Rosenblüte rieselten in ihren Schoß. Sie schluckte heftig. Wartete, bis die Kälte vorüberging. Dann öffnete sie die Augen. Liam lachte hart auf. Dann erhob er sich abrupt und stand auf.
»Okay. Ich geh mal Luke suchen. Bin gleich wieder da.«
Kurz darauf kam Melissa zurück und setzte sich neben Faye. »Luke hat gerade einen Anruf von Zoe bekommen. Sie erinnert euch an eurer wöchentliches Billiardspiel. Dein Bruder hat zugesagt. Wir treffen uns um neun beim Coffee Shop am Pier.« »Verdammt. Luke scheint überhaupt keinen Schlaf mehr zu brauchen, ich aber schon«, murmelte Faye überrumpelt.
Unerwartet beugte Melissa sich herüber und griff stumm nach ihrer Hand. »Wir sprechen niemals über unser Leben vor unserer Verwandlung«, sagte sie zögernd. Nervös hob sie die Hände und ließ sie wieder sinken. Aufseufzend beschloss sie, Fayes stumme Frage zu beantworten.
»Ich habe die Frage gehört, die du Liam eben gestellt hast. Weißt du«, sagte sie tröstend, »weder Liam noch meine Tante wissen wirklich, wie es in Quin aussieht. Man darf ihn aufgrund seines merkwürdigen Verhaltens nicht vorverurteilen. Manchmal brauchen medial veranlagte Nat-Charmer wie Quin einfach ein wenig länger, um sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen und etwas für jemanden zu empfinden.«
»Warum?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wird es irgendwann einmal besser?«
»Was soll ich dazu sagen?«, fragte Melissa mit mitleidig hochgezogenen Schultern.
»Lüg mich an«, flüsterte Faye.
* Zitat aus: Die Straße der Ölsardinen (englisch: Cannery Row) - erfolgreicher Roman des US-amerikanischen Schriftstellers John
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