Tanz im Dunkel
mit wildem Blumenmuster komplettierte ihr Kostüm. Die schulterlange Perücke und die pinkfarbene Blume im Kunsthaar wippten beim Aufwärmen bei jeder Bewegung hin und her. Die Narbe auf Rues Bauch war dank Julie und Megan perfekt mit wasserfestem Bühnen-Make-up überschminkt.
Karl hatte die CD mit ihrer Musik mitgebracht und sie bereits der Organisatorin des Abends, einer erstaunlich gelassen wirkenden, zierlichen Frau namens Jeri gegeben. Auf der Fahrt zum Haus der Jaslows war Rue aufgefallen, dass die breite Einfahrt von brennenden Fackeln gesäumt war, die auf hohen Pfählen befestigt waren. Und alle Kellnerinnen und Kellner trugen ebenfalls Südsee-Kostüme. Jeri wusste, wie man das Motto einer Party umsetzte.
In Gedanken ging Rue die Tanzvorführung noch einmal durch. Sean stand neben ihr. Bevor Phil und Rick hinausgingen, blieb Rick kurz stehen und gab ihr einen Kuss auf die Wange, der ihr Glück bringen sollte. Rue riss sich zusammen und lächelte ihm munter zu.
“Nervös?”, erkundigte sich Sean.
“Ja.” Sie hatte kein Problem damit, es ihm gegenüber zuzugeben.
Kopf hoch, Brust heraus und immer schön lächeln.
“So, jetzt geht es mir besser.”
“Warum tust du das? Warum nimmst du immer diese … ‘Position’ ein?”
“Meine Mutter hat mir früher jedes Mal diesen Rat gegeben, bevor ich auf die Bühne gegangen bin – und das von meinem fünften bis zu meinem 20. Lebensjahr.”
“Du bist also oft aufgetreten?”
“Bei Schönheitswettbewerben”, sagte sie langsam. Sie hatte das Gefühl, als rede sie über jemand anderen. “Oder bei Talentwettbewerben. Egal, was es war, ich war dabei. Es hat meine Eltern Tausende von Dollar im Jahr gekostet. Und ich habe ziemlich oft gewonnen. Oft genug jedenfalls, damit sich für meine Eltern der Aufwand gelohnt hat – zumindest für meinen Vater.” Sie ging in den Spagat. “Drück mich auf den Schultern nach unten.” Seine langen, schlanken Finger packten zu und drückten. Er schien immer genau zu wissen, wie viel Druck er ausüben musste. Dabei war er, wie Rue wusste, viel stärker als jedes menschliche Wesen.
“Hast du Geschwister?”, fragte er leise.
“Ich habe einen Bruder.” Sie hatte die Augen geschlossen und spürte, wie sich ihre Beinmuskulatur bis zum Äußersten dehnte. Über ihre Familie hatte sie seit über einem Jahr nicht mehr geredet.
“Ist dein Bruder ein attraktiver Mann?”
“Nein”, antwortete Rue traurig. “Nein, das ist er nicht. Er ist ein reizender Mensch, aber nicht gerade stark.”
“Du hast also nicht alle Schönheitswettbewerbe gewonnen, an denen du teilgenommen hast?”, fragte Sean neckend und wechselte dadurch geschickt das Thema.
Sie schloss die Augen und lächelte. Dann stand sie sehr vorsichtig wieder auf. “Ein paar schon.” Ihr fiel die Vitrine aus Glas ein, die ihre Mutter für die vielen Pokale und Krönchen gekauft hatte.
“Aber nicht alle?” Sean machte große Augen, um ihr zu zeigen, wie unfassbar er das fand.
“Manchmal bin ich Zweite geworden”, gab sie grinsend zu und sah ihn angriffslustig von der Seite an. “Und manchmal war ich Miss Charming.”
“Du meinst, die anderen Teilnehmerinnen haben geglaubt, du wärst das netteste Mädchen von allen?”
“Da habe ich ihnen schön was vorgemacht, was?”
Sean grinste sie an. “Du kannst durchaus nett sein. Manchmal.” Dieser M-förmige Mund war einfach unglaublich süß, wenn er lächelte.
“Du bist umwerfend, Sean”, sagte sie ebenso spontan wie ehrlich. Sie konnte nicht aufhören, ebenfalls zu lächeln. Er sah ziemlich seltsam in seinem Kostüm aus: diesem geblümten Lendenschurz, dem Fußreifen aus Muschelschalen und der schwarzen Kurzhaarperücke. Thompson war der Einzige, der – wie er selber schadenfroh festgestellt hatte – in diesem Aufzug halbwegs natürlich aussah.
“Was heißt das?”
Immer noch lächelnd schüttelte sie den Kopf und war ziemlich erleichtert, als Denny in diesem Augenblick an der Tür klopfte und ihnen damit das Zeichen gab, dass Jeri ihm mitgeteilt hatte, dass es Zeit für den Auftritt war. Karl stellte die Tänzer nebeneinander auf, um sie prüfend zu begutachten und hier und da noch die Kostüme zurechtzuzupfen. “Der Bauch sieht gut aus”, stellte er fest. Rue sah nach unten. “Julie und Megan haben es toll hingekriegt”, gab sie zu. Sie wusste, dass die Narbe sich da irgendwo befand, doch wenn sie nicht ganz genau hingesehen hätte, hätte sie selbst gedacht, dass ihr Bauch völlig
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