Tanz im Dunkel
machte.
Nach ungefähr 15 Minuten stand sie auf, um ihm zu signalisieren, dass sie fertig war. Den Blick allerdings hielt sie starr geradeaus gerichtet. Rue war sich nicht sicher, ob sie sich gerade ziemlich kindisch benahm oder einfach nur zu verhindern versuchte, dass sie auf Sean losging. Er startete den CD-Player, und zu Rues Überraschung war Tina Turners sinnliche Stimme zu hören. “Proud Mary” war kein Song zum Nachdenken, sondern zum Tanzen, und als Sean ihr seine Hände entgegenstreckte, hatte Rue keine Ahnung, was er nun tun würde. Die folgenden 20 Minuten waren eine derartige Herausforderung, dass ihr keine Gelegenheit mehr zum Grübeln blieb. Avril Lavigne, die Dixie Chicks, Macy Gray und die Supremes hielten sie ordentlich auf Trab.
Und sie sah ihn kein einziges Mal an.
Das nächste Lied war ihr Lieblingslied. Es war eine alte Nummer, die – wie sie Sean einmal anvertraut hatte – der Auslöser dafür gewesen war, dass sie Tänzerin wurde: “Time of My Life” von den Righteous Brothers. Sie hatte ihre Videokassette mit “Dirty Dancing” so oft angeguckt, bis das Band zerschlissen war, und dieser Song war der Höhepunkt des Films gewesen. Die Heldin hatte endlich genug Vertrauen in sich selbst und zu ihrem Tanzpartner entwickelt, dass sie einen Sprung wagen konnte, auf dessen höchstem Punkt er sie auffing und waagerecht über seinem Kopf trug, als ob sie flöge.
“Schäm dich”, sagte sie mit bebender Stimme.
“Wir studieren das jetzt ein.”
“Wie konntest du dich dermaßen in mein Leben einmischen?”
“Ich gehöre dir”, sagte er.
Seine Worte waren so einfach, so direkt. Sie erwiderte seinen Blick. Er nickte einmal. Seine Liebeserklärung traf sie wie eine Faust ins Herz. Sie war so verblüfft über sein Geständnis, dass sie es geschehen ließ, als er ihr erst eine Hand auf den Rücken legte und dann ihre linke Hand nahm und sie sich auf sein stilles Herz legte. Beide begannen ihre Hüften zur Musik zu bewegen. Der Moment der Versunkenheit war vorbei, als er Rue über das Parkett wirbelte und gemeinsam mit ihr zu tanzen begann. Nichts mehr war für sie wichtig, als sich seinen Schritten anzupassen. Sie wollte ewig so mit ihm tanzen. Bei jeder Bewegung ihres Körpers, jeder Drehung ihres Kopfes entdeckte sie etwas Neues in seinem bleichen Gesicht – ein Funkeln in seinen blauen Augen, die Linie seiner Augenbrauen, die stolze Biegung seiner Nase, die einen so merkwürdigen Kontrast zu der Anmut seines Körpers bildete. Als die Musik auf ihren Höhepunkt zusteuerte, lief Sean zum anderen Ende des Saals und breitete die Arme für sie aus.
Rue holte tief Luft, lief auf ihn zu, und als sie im genau richtigen Abstand zu Sean war, ließ sie sich fallen. Sie spürte seine Hände an ihren Hüften, und plötzlich schwebte sie hoch über seinem Kopf in der Luft – mit ausgebreiteten Armen, die Beine in einer eleganten Linie nach hinten gestreckt. Sie flog.
Dann ließ Sean sie ganz langsam an sich hinuntergleiten, und Rue konnte nicht aufhören zu lächeln. Die Musik hörte auf, doch Sean setzte sie nicht auf den Boden ab. Sie sah ihm direkt in die Augen, und ihr Lächeln verschwand.
Er hielt sie fest im Arm, sein Mund war dicht vor ihrem. Im nächsten Moment berührten sich ihre Lippen.
“Wir sollten das nicht tun”, flüsterte Rue. “Du würdest ein zu großes Risiko eingehen. Er wird mich finden. Er wird wieder versuchen, mich umzubringen. Und du wirst versuchen, ihn davon abzuhalten, und dabei selbst verletzt werden. Das weißt du.”
“Ich weiß
das
“, sagte Sean und küsste sie noch einmal. Diesmal leidenschaftlicher. Sie öffnete die Lippen für ihn, und das Gefühl, in seinen Armen zu liegen und seine Zunge in ihrem Mund zu spüren, war überwältigend. Es schien, als gehörte sie ihm, so wie er ihr gehörte.
Zum zweiten Mal in ihrem Leben gab Rue sich jemandem hin.
“Das ist anders”, flüsterte sie. “Das ist anders.”
“Es soll auch anders sein”, sagte Sean. “Und es wird anders sein.” Er drückte sie an sich, und sein Blick verschmolz mit ihrem.
“Warum lässt du dich auf mich ein?” Sie schüttelte benommen den Kopf. “In meinem Leben ist so viel Schlimmes passiert.”
“Du hast dagegen angekämpft”, sagte er. “Du hast dir selbst ein neues Leben aufgebaut.”
“Kein besonders tolles Leben.”
“Ein mutiges Leben, das einen Sinn und ein Ziel hat. Und jetzt lass mich dich in deinem neuen Leben lieben.” Er drückte sie fest an
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