Tanz im Dunkel
durfte er sich nicht drücken. Rue würde er trotzdem einholen, dessen war er sich sicher; immerhin war er ein Vampir und sie ein Mensch.
Carver wartete drei Straßen weiter nördlich auf sie.
Rue ging sehr schnell. Sie kämpfte gegen ihre aufsteigenden Tränen – allerdings mit wenig Erfolg. Sie wollte den Bus an der nächsten Haltestelle erwischen: Es war der letzte an diesem Sonntagabend. Als sie um die Ecke bog, sprang Carver so plötzlich auf sie zu, dass er sie am Arm gepackt hatte, ehe sie auch nur in irgendeiner Form reagieren konnte.
“Hallo, Layla.” Er lächelte.
Die albtraumartige Situation, vor der sie sich vier lange Jahre gefürchtet hatte, war Wirklichkeit geworden.
Carver war immer ein attraktiver Mann gewesen, doch sein derzeitiges Aussehen war alles andere als gepflegt. Er hatte sein dunkles Haar mit viel Gel bearbeitet, sodass es in die Höhe stand, und er trug zerrissene Jeans und eine Lederjacke. Offenbar wollte er unerkannt bleiben.
“Ich habe noch eine Rechnung mit dir offen”, sagte er immer noch lächelnd.
Rue war nicht in der Lage gewesen, auch nur einen Mucks zu machen, als er sie am Arm gepackt hatte, doch nun begann sie zu schreien.
“Halt den Mund”, brüllte er und schlug ihr mit dem Handrücken auf den Mund.
Aber Rue hatte nicht die Absicht, ihm diesen Gefallen zu tun. “Hilfe!”, schrie sie. “Hilfe!” Mit der freien Hand wühlte sie in ihrer Tasche nach dem Pfefferspray, den sie sonst immer bei sich hatte, doch sie konnte ihn nicht finden.
Carver hielt Rue am rechten Arm fest und begann, mit der Faust auf sie einzuschlagen, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie versuchte, den Schlägen auszuweichen, während sie weiterhin verzweifelt nach dem Spray suchte und betete, dass ihr jemand zu Hilfe kommen mögen. Wo war der Pfefferspray? Sie hörte auf, sinnlos in ihrer großen Tasche zu wühlen, ließ sie auf den Boden fallen und begann, sich zu mit den Fäusten zu wehren. Da sie nicht annähernd so groß wie Carver war, zielte sie auf seine Genitalien. Sie versuchte ihn dort zu packen und unbarmherzig zuzudrücken, doch er riss sie zurück. Es gelang ihr lediglich ein einziger harter Schlag – und das genügte. Carver krümmte sich vor Schmerz. Dann hörte er jemanden auf der anderen Seite schreien und taumelte zurück.
“Lass das Mädchen in Ruhe!”, rief eine weibliche Stimme. “Ich rufe die Polizei!”
Rue sank auf die Knie. Sie war zu erschöpft, um sich noch auf den Beinen zu halten, doch sie ließ Carver nicht aus den Augen und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Sie war bereit, sich zu verteidigen und würde nicht aufgeben. Nun rannte Carver – so schnell es ihm mit seiner Blessur möglich war – die Straße hinunter. Rue stellte mit einigem Stolz fest, dass er Mühe hatte zu laufen, und sah ihm nach, wie er um die Ecke verschwand.
“Ich werde weder ohnmächtig noch umfallen”, murmelte sie.
“Alles in Ordnung mit Ihnen?”
Rue sah die Frau an ihrer Seite nicht an, sondern hielt den Blick auf die Straßenecke geheftet, hinter der Carver verschwunden war. Diese Frau hatte ihr zwar das Leben gerettet, aber Rue wollte gewappnet sein, falls Carver vorhatte, wiederzukommen.
“Rue! Rue!” Zu ihrer ungeheuren Erleichterung hörte sie Seans Stimme. Jetzt konnte Carver ihr nichts mehr tun; egal, wie böse Sean auf sie sein mochte, er würde niemals zulassen, dass Carver ihr wehtat. Das wusste sie. Erschöpft setzte sie sich hin. Dann lag sie plötzlich auf dem Bürgersteig, und ab diesem Moment wusste sie gar nichts mehr.
Als Rue wieder mitbekam, was um sie herum geschah, stellte sie fest, dass sie sich an einem äußerst merkwürdigen Ort befand. War das ein Krankenhaus? Nein, es roch nicht nach Krankenhaus, denn diesen Geruch kannte sie nur allzu gut. Es war still hier und gemütlich, sie lag auf sauberen, weißen Laken, und irgendjemand befand sich neben ihr. Als sie versuchte, sich zu bewegen und wenigstens ein bisschen aufzusetzen, stellte sie fest, dass ihr mehrere Stellen ihres Körpers übel wehtaten. Sie stöhnte.
“Alles okay? Möchtest du einen Schluck Wasser?”, erkundigte sich eine vertraute Stimme. Rue öffnete ihre verquollenen Augen. Sie konnte sehen – ein bisschen zumindest. “Bist du das, Megan?”, krächzte sie.
“Ja. Julie und ich haben uns abgewechselt.”
“Wer ist noch hier? Wo
ist
er?”
“Oh, wir sind hier in Seans Wohnung. In seinem sicheren Raum. Derjenige, der da neben dir im Bett liegt … das ist er,
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