Tanz ins große Glueck
Treffen mit der nur wenig älteren Tänzerin, die mit Nick den Solopart in Don Quijote gehabt hatte. Und dann in Lindsays kleiner Ballettschule ... Ruth war voller Scheu und voller Angst gewesen. Trotzdem hatte sie offen heraus erklärt, dass sie eines Tages auch in Don Quijote tanzen würde!
Und das hatte sie erreicht. Ganz den Erinnerungen
hingegeben, wickelte sie sich ein trockenes Handtuch um ihren schlanken Körper. Und Onkel Seth und Lindsay waren zur Premiere gekommen, obwohl Lindsay damals im achten Monat schwanger gewesen war. Lindsay hatte geweint, und Nick hatte sie deswegen aufgezogen.
Mit einem Seufzer ließ Ruth das Handtuch auf den
Wäschehaufen fallen und langte nach ihrem Frotteemantel. Nur Lindsay hatte darauf kommen können, dass nicht alles so war, wie es sein sollte. Ruth band sich den Gürtel um den flauschigen Morgenmantel und suchte dann nach einem Kamm. Sie hatte Lindsay am Telefon von Donald erzählt, wie ihr wieder einfiel.
Sie hatte ihr auch von der charmanten kleinen Kommode erzählt, die sie in einem der Antikläden in Greenwich Village gefunden hatte. Sie hatten über die Kinder geplaudert, und Onkel Seth hatte sich eingeschaltet und sie gebeten, an ihrem ersten freien Wochenende zu Besuch zu kommen.
Und aus all diesem Geplauder und Familiengerede hatte Lindsay etwas herausgehört, was ihr - Ruth - selbst verborgen geblieben war.
Dass sie nicht glücklich war.
Auch nicht unglücklich, dachte sie mit gerunzelter Stirn und fuhr sich mit dem Kamm durch das lange nasse Haar. Sie hatte alles, was sie sich jemals erträumt hatte. Sie war die erste Solotänzerin des Ensembles, ein anerkannter Name in der Welt des Balletts. Sie würde die Hauptrolle in Dawidows jüngstem Ballettwerk tanzen. Die Anforderungen waren groß, aber Ruth ging ganz in dieser Arbeit auf. Es war das Leben, für das sie geboren worden war.
Und dennoch ... Manches Mal sehnte sie sich danach, die Regeln zu durchbrechen, einfach wieder zurückzukehren zu den unsteten Zeiten, die sie als Kind gekannt hatte. Es hatte damals so viel Freiheit, so viel Abenteuer gegeben. Ihre Augen leuchteten auf bei den Erinnerungen. Skifahren in der Schweiz, wo die Luft so kalt und klar war, dass es ihr beim Einatmen in der Nase wehgetan hatte. Die Gerüche und die Farben in Istanbul. Die großäugigen Kinder auf Kreta. Ein winziges Apartment mit gläsernen Türklinken in Bonn. Damals war sie mit ihren Eltern, beide Journalisten, herumgereist. Waren sie jemals länger als drei Monate an einem Ort gewesen? Es war für sie so gut wie unmöglich gewesen, irgendwelche engen Bindungen außerhalb ihrer kleinen Familie einzugehen.
Und was das Tanzen anging? Es war während ihrer Kindheit ihr ständiger Begleiter in einer immer wechselnden Umgebung gewesen. Die Lehrer hatten mit verschiedenen Stimmen, in verschiedenen Akzenten, in verschiedenen Sprachen
gesprochen, aber das Tanzen war ihr überall geblieben.
Dann kam ihr Leben mit Onkel Seth und mit Lindsay und die Jahre mit den Evanstons, wo sie zum ersten Mal das Leben innerhalb einer Familie kennen gelernt hatte. Es hatte sie aufgeschlossen gemacht, hatte sie ermutigt, ihre Gefühle vertrauensvoll zu zeigen. Und doch führte sie ein eher isoliertes Leben. Ihre Welt war das Ballett. Aus dieser Abgeschlossenheit heraus war sie wohl zu einer ausgemachten Beobachterin geworden. Die Menschen zu beobachten und sie zu analysieren war ihr zur Gewohnheit geworden. Ja, es war ihr fast zur zweiten Natur geworden.
Und das ist auch mit ein Grund, warum Donald mir gefällt, dachte sie mit einem Lächeln. Er ist so berechenbar. Keine Wasserwirbel, keine Unterströmungen. Dagegen ein Mann wie Nick ...
Sie goss sich Lotion auf die Handfläche und rieb sich die Arme ein. Ein Mann wie Nick, dachte sie, ist total
unberechenbar, ein ständiger Quell des Ärgers und der Verwirrung. Launisch, uneinsichtig, anstrengend. Nur allein mit ihm Schritt zu halten erschöpfte sie. Und es war schwer, ihn zufrieden zu stellen! Sie hatte mehr als einmal erlebt, dass Tänzer das Alleräußerste von sich gegeben hatten, um das zu leisten, was er verlangte. Sie hatte es selbst getan. Was war bloß an ihm, das so unendlich faszinierte?
Es klingelte an ihrer Tür, und Ruth schreckte aus ihren Gedanken auf. Sie knipste im Wohnzimmer das Licht an, ging zur Eingangstür und warf einen Blick durch den Spion. Sie war überrascht. Schnell schob sie die Sicherheitskette zurück und öffnete die Tür.
"Donald, ich habe gerade an
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