Tanz mit dem Engel
ein Erlebnis, das ich früher nicht hatte. Als ob ich mehrere Mitteilungen zugleich bekäme. Dinge, die aus verschiedenen Richtungen an mir zerrten.«
»Ja.«
»Du verstehst? Als ob ich meine Arbeit noch besser als früher machen könnte, während es gleichzeitig diesmal schwerer denn je scheint.«
»Ich verstehe.«
»Du verstehst? Wie kannst du das verstehen, Hanne?« Sie antwortete nicht.
»Wie kannst du das verstehen?« wiederholte er.
»Mit wie vielen Angehörigen haben wir zusammen gesprochen?« fragte sie. »Siehst du, daß es draußen schneit, während gleichzeitig vielleicht die Sonne scheint, siehst du, daß es kalt in der Luft ist, während es gleichzeitig ein wenig heller ist als gestern um die gleiche Zeit?«
»Ich verstehe.«
Es gab immer ein Licht. Es würde wärmer werden. Was auch immer geschah, es waren immer noch Wahrheiten da. Vielleicht war das eine Erklärung in sich.
Er hatte aus dem Fenster geblickt und nur ein graues Licht gesehen, und wenn sie sagte, daß es schneite, dann war es so.
»Glaubst du, daß es eine Grenze gibt?« fragte er nach einer halben Minute. »Ob man an eine Grenze gelangt?« »Ja.«
»Das ist schwer zu sagen. Mir ist es immer schwergefallen, Grenzen zu sehen, einen Teil davon auf jeden Fall.«
»Weißt du, was das Schwerste bei diesem Job ist? Daß man in Gewohnheiten und Routine verfällt, so schnell es nur geht, und daß man dann so hart wie möglich daran arbeitet, die Gewohnheiten und die Routine außen vor zu lassen. Daß alles neu ist, daß es zum erstenmal geschieht.«
»Ich verstehe.«
»Daß dieses Blut zum erstenmal fließt. Daß es meines oder deines sein könnte, Hanne. Oder wie es jetzt gewesen ist, daß man die Leiche gesehen hat, als sie in Bewegung war. Als der Geist noch im Körper war. Da liegt der Ausgangspunkt.«
»Und was machst du jetzt?«
»Ich gehe in mein Zimmer und lese Möllerströms Reinschriften.«
Der Dieb war zurückgegangen. Eine Sekunde lang hatte er gehofft, daß die Wohnung oder das Haus nicht mehr da wäre, daß es ein kurzer Traum gewesen war, ein von der Spannung erzeugter Blackout; im Bemühen um handwerkliche Tüchtigkeit nimmt die Spannung manchmal überhand.
Er hatte es wie früher gemacht und die Zeit abgepaßt und die Leute aus dem Haus gehen sehen. Die Frauen und Männer und einige Kinder, aber ihn hatte er nicht gesehen. Er war nicht ins Haus gegangen. Er wußte, daß es gefährlich sein konnte, sich draußen herumzudrücken.
Am nächsten Morgen war er wieder hingegangen, und da sah er ihn um zehn weggehen, und er folgte ihm und sah ihn über den Weg zum Parkplatz gehen und einen Opel anlassen, der ziemlich neu aussah. Er verfolgte das Auto mit dem Blick, bis es verschwand. Und nun? Hatte er so weit gedacht? Wie hatte er es sich gedacht?
Er fror nach eineinhalb Stunden im Freien, und er betrat das Treppenhaus und stand plötzlich vor der Wohnung und lauschte, und dann war er drinnen. Er ging schnell über den Flur, hinein ins Schlafzimmer, und der Puls klopfte wie eine Ramme zwischen den Ohren. Auf dem Fußboden war nichts, keine neuen schwarzen Müllsäcke, kein Ziegelrot, nichts.
Nichts Neues zu stehlen, und als er ein Geräusch aus dem Flur hörte, sah er ein, daß es Grenzen für die menschliche Neugier gibt oder für die Unschlüssigkeit oder was zum Teufel ihn hergetrieben hatte.
Daran ist die Presse schuld, dachte er. Hätten die verfluchten Zeitungen nicht über den verfluchten, scheußlichen Mord geschrieben, wäre ich nicht hierher zurückgekommen und hätte nicht die verfluchte, scheußliche, scheußliche Tür draußen im Flur aufgehen gehört.
Er fiel auf die Knie und glitt unters Bett. Was soll ich nur machen? dachte er. Das ist die aufgelaufene Strafe für meine gesammelten Sünden.
Unter dem breiten Bett gab es eine feine Staubschicht und Bälle aus dem gleichen Staub, und er rutschte tiefer darunter, während er gleichzeitig versuchte, ein Niesen zu unterdrücken. Er hielt eine Hand vor den Mund und die Nase und die andere um den Nacken, um den Reiz abzustellen. Das habe ich mir einmal ausgemalt, dachte er, daran habe ich einmal gedacht. Die Juden liegen im
Versteck und warten, und die deutschen Soldaten durchsuchen das Haus, und plötzlich muß einer niesen.
Er sah das Licht im Flur angehen und ein Paar Stiefel, die ins Schlafzimmer kamen. Die Furcht sorgte dafür, daß der Niesreiz in der Nase sich verzog.
Er glaubte, daß er den Atem anhielt. Irgendwo wurde eine Lampe eingeschaltet.
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