Tanz mit dem Schafsmann
nicht verstanden. Jetzt gelingt es mir, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Ich beschütze sie auf meine Art. Als Vierunddreißigjähriger kann ich mich unmöglich in eine Dreizehnjährige verlieben. Das Leben ist eben nicht ganz ideal.
Ungefähr konnte ich nachvollziehen, weshalb ihre Klassenkameraden sie derart schikanierten. Ihre Schönheit war zu abgehoben, zu weit vom Normalen entfernt. Zu eindringlich. Zudem verhielt sie sich ihnen gegenüber sehr distanziert, deshalb fürchteten sie sich vor ihr und setzten ihr gnadenlos zu. Sie fühlten sich beleidigt, denn durch sie wurde ihr intimes Gemeinschaftsgefühl gestört.
Darin unterschied sie sich von Gotanda, der sich seiner starken Wirkung auf andere sehr wohl bewusst war und sie zu kontrollieren verstand. Er hatte nie jemanden eingeschüchtert. Und wenn seine Präsenz Stardimensionen annahm, lächelte er charmant und machte einen kleinen Scherz darüber. Das genügte, er musste nicht unbedingt vor Witz sprühen. Die anderen lächelten zurück, und alle fühlten sich wohl. Netter Kerl , dachte jeder. Was er auch tatsächlich war.
Doch bei Yuki sah die Sache anders aus. Auf sich allein gestellt, kämpfte sie ums Überleben. Das ließ ihr keinen Spielraum, über die Gefühlsregungen anderer nachzudenken und sich darauf einzustellen. Folglich verletzte sie andere und dadurch auch sich selbst. Ein hartes Leben. Selbst für einen Erwachsenen, geschweige denn für ein dreizehnjähriges Mädchen.
Schwer zu sagen, was aus ihr werden würde. Bestenfalls würde sie wie ihre Mutter eine Möglichkeit entdecken sich auszudrücken und künstlerisch tätig werden. Wenn es ihr gelänge, ihre Energie zu kanalisieren, würde sie große Leistungen vollbringen und ausreichend Anerkennung bekommen. Ich weiß auch nicht, wie ich darauf kam, es war nur so ein Gefühl von mir. Ebenso wie ihr Vater spürte ich ihre Energie. Sie besaß eine Aura, eine Begabung, die sie zu einer außergewöhnlichen Erscheinung machte. Weit entfernt vom Schneeschaufeln.
Vielleicht würde sie sich aber auch bis zu ihrem achtzehnten, neunzehnten Lebensjahr in ein völlig normales Mädchen verwandeln. Solche Fälle habe ich ein paar Mal erlebt. Auffällig schöne Mädchen verlieren im Laufe ihrer Pubertät die schillernde Ausstrahlung, die sie mit dreizehn hatten. Die messerscharfe Eindringlichkeit stumpft ab. »Schön, aber nicht besonders eindrucksvoll«, sagt man dann. Die Betroffenen sind damit anscheinend ganz zufrieden.
Welche Entwicklung Yuki durchmachen würde, konnte ich natürlich nicht voraussehen. Jeder Mensch hat seinen individuellen Höhepunkt. Wenn der erreicht ist, geht es eigentlich nur noch bergab. Daran ist nicht zu rütteln. Und das Schlimme ist, dass keiner weiß, wann dieser Höhepunkt erreicht ist. Man denkt, ach, es geht immer noch weiter bergauf, doch plötzlich ist der Grat unbemerkt überschritten. Niemand kann es vorhersehen. Manche erreichen ihren Höhepunkt mit zwölf und führen danach ein ziemlich unspektakuläres Leben. Andere entwickeln sich weiter bis zu ihrem Tod oder sterben auf dem Höhepunkt ihres Lebens. Viele Dichter und Komponisten lebten so exzessiv und trieben sich gewaltsam voran, dass sie schon mit dreißig diese Welt verließen. Dann gibt es wiederum Künstler wie Picasso, die noch mit über achtzig kraftvolle Bilder malen und dann friedlich aus dem Leben scheiden. Wie es gelaufen ist, weiß man eigentlich erst, wenn man stirbt.
Und ich?
Wann war mein Höhepunkt? Anscheinend war er ausgeblieben. Rückblickend fragte ich mich, ob das überhaupt als Leben zu bezeichnen war. Ein leichtes Gekräusel. Ein unerhebliches Auf und Ab. Ungeschickte Kletterpartien. Aber mehr auch nicht. Quasi null. Ich hatte nichts zustande gebracht. Ich hatte geliebt, ich war geliebt worden, aber nichts war geblieben. Mein Leben war merkwürdig flach, eine eintönige Landschaft. Als würde ich in einem Videospiel herumgeistern. Ein Pseudo-Pacman, der sich durch ein Labyrinth punktierter Linien mampft. Ziellos. Mit der einzigen Gewissheit, sterblich zu sein.
Du wirst vielleicht nie glücklich werden, hatte der Schafsmann gesagt. Deshalb bleibt dir nur das Tanzen. Tanze! So brillant, dass die anderen dich bewundern.
Ich hörte auf zu grübeln und schloss die Augen.
Als ich sie wieder aufmachte, starrte Yuki mir ins Gesicht.
»Bist du okay?«, fragte sie. »Du siehst ganz fertig aus. Habe ich was Falsches gesagt?«
Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, es lag an etwas
Weitere Kostenlose Bücher