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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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doch in diesem Schweigen fühlte ich mich tief mit Gotanda verbunden. Am liebsten hätte ich ihm die Hand auf den Rücken gelegt und ihn beruhigt: Alles in Ordnung, die Sache ist vorbei. Aber ich sagte nichts dergleichen. Ein Mensch war gestorben. Einsam und eiskalt begraben. Diese Last wog schwerer, als ich es ertragen konnte.
    »Wer könnte sie umgebracht haben?«, fragte mich Gotanda geraume Zeit später.
    »Wer weiß«, sagte ich. »In diesem Gewerbe hat man es mit den unterschiedlichsten Typen zu tun. Da kann alles Mögliche passieren. Es ist nicht nur wie im Märchen.«
    »Aber der Club achtet doch angeblich streng auf die Seriosität seiner Kunden. Er ist so gut organisiert, dass sich sofort ermitteln lässt, mit wem sie zusammen war.«
    »In der Nacht war es vielleicht jemand ganz anderes. Das ist meine Vermutung. Es könnte jemand gewesen sein, mit dem sie privat eine Beziehung hatte. Oder sie hat auf eigene Faust gearbeitet. Wer immer es war, er wurde ihr zum Verhängnis.«
    »Die arme May«, sagte Gotanda.
    »Sie hat zu sehr ihrem Märchenleben vertraut. Ihre Welt bestand nur aus Traumbildern. Aber das kann man nicht ewig aufrechterhalten. Selbst da herrschen strenge Regeln. Es gibt immer welche, die diese Regeln missachten. Ein falscher Kunde, und schon ist es vorbei.«
    »Ich habe mich oft darüber gewundert«, sagte Gotanda. »Wie gerät ein so hübsches, intelligentes Mädchen in dieses Milieu? Unbegreiflich. Sie hätte doch ein viel besseres Leben verdient gehabt, einen ordentlichen Job oder einen reichen Kerl zum Heiraten. Sie hätte auch als Model arbeiten können. Wieso musste sie Prostituierte werden? Natürlich spielt auch das Finanzielle eine Rolle, aber sie war doch gar nicht scharf auf Geld. Wahrscheinlich stimmt, was du sagst: Sie hat eine Märchenwelt gesucht.«
    »Könnte sein«, sagte ich. »Genau wie du und ich, wie wir alle. Nur sucht sie jeder auf seine Weise. Da kommt es mitunter zu Fehltritten und Irrtümern. Und manch einer bezahlt dafür mit dem Leben.«
    Ich hielt vor dem New Grand Hotel in Yokohama.
    »Hör mal«, sagte Gotanda, »willst du nicht auch hier übernachten? Sie haben bestimmt noch ein Zimmer frei. Wir könnten uns ein paar Drinks kommen lassen und noch ein bisschen reden. Ich könnte ohnehin nicht gleich einschlafen.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Lass uns das nächste Mal was zusammen trinken. Ich bin auch ziemlich geschafft. Ich möchte jetzt nur noch nach Hause, möglichst ohne nachzudenken, und mich aufs Ohr legen.«
    »Klar«, sagte er. »Dann vielen Dank fürs Herbringen. Wahrscheinlich rede ich heute ohnehin nur Stuss.«
    »Du bist eben auch erledigt«, sagte ich. »Und vor allem solltest du nichts überstürzen. May wird nicht mehr lebendig. Denk in Ruhe darüber nach, wenn du dich wieder etwas erholt hast. Hörst du? Sie ist tot – definitiv, für alle Zeit. Seziert und eingefroren. Auch mit Schuldgefühlen kannst du sie nicht wieder zum Leben erwecken.«
    Gotanda nickte. »Schon klar.«
    »Schlaf gut.«
    »Nochmals vielen Dank«, sagte er.
    »Nächstes Mal zündest du für mich den Bunsenbrenner an, und dann sind wir quitt, ja?«
    Er lächelte und wollte aussteigen, wandte sich aber noch einmal zu mir um: »Weißt du, es klingt vielleicht komisch, aber außer dir gibt es niemanden, den ich als Freund bezeichnen würde. Und das, obwohl wir uns nach zwanzig Jahren erst zwei Mal wiedergesehen haben. Ist doch merkwürdig, oder?«
    Daraufhin stieg er aus und ging. Den Kragen seines Trenchcoats hochgeschlagen, lief er durch den Frühlingsregen zum Eingang des New Grand Hotel. Wie in Casablanca . Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft …
    Ich empfand im Grunde das Gleiche für ihn und konnte seine Worte gut nachempfinden. Auch für mich war er die einzige Person, die ich zur Zeit als Freund betrachtete. Und ich fand es ebenfalls merkwürdig. Es lag diesmal nicht an ihm, dass unsere Freundschaft wie eine Filmszene wirkte.
    Auf dem Rückweg nach Tokyo hörte ich Everyday People von Sly & The Family Stone und klopfte den Rhythmus auf dem Lenkrad. Es nieselte immer noch, still und gleichmäßig. Ein sanfter, weicher Regen, der über Nacht die grünen Knospen sprießen ließ. Sie ist tot – definitiv, für alle Zeit, sagte ich mir laut vor. Ich hätte vielleicht doch besser in dem Hotel übernachten und mit Gotanda einen Drink nehmen sollen. Inzwischen waren es schon vier Dinge, die uns verbanden: der Labortisch, die Scheidung, Kiki und nun auch noch May. Und

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