Tanz mit dem Schafsmann
May war tot – definitiv, für alle Zeit. Grund genug, mit ihm zu trinken. Ich hätte ihm Gesellschaft leisten sollen, zumal ich am nächsten Tag ohnehin nichts vorhatte. Was hatte mich davon abgehalten? Vielleicht hatte ich etwas dagegen, weil es wie eine Filmszene hätte wirken können. In gewisser Hinsicht konnte Gotanda einem fast leid tun. Dieses Übermaß an Charme war sein Verhängnis. Und er konnte nicht einmal etwas dafür. Wahrscheinlich.
Als ich in mein Apartment zurückkam, trank ich einen Brandy und schaute durch die Schlitze der Jalousie auf die Schnellstraße. Kurz vor vier übermannte mich der Schlaf.
27
Eine Woche war vergangen. Der Frühling hatte sein Revier erobert und schritt ohne den geringsten Rückzieher unaufhaltsam voran, ganz anders als im März. Die Kirschbäume blühten, und die nächtlichen Schauer verstreuten die Blüten auf dem Boden. Die Wahlen waren vorbei, und die Schule hatte wieder begonnen. Tokyo Disneyland hatte seine Pforten geöffnet. Björn Borg hatte sich vom Tennis verabschiedet. Nummer eins in den Charts war immer noch Michael Jackson. Die Toten blieben tot.
Für mich war es eine sinnlose Woche. Eine Reihe von Tagen, an denen ich ziellos umherirrte. Zwei Mal ging ich zum Schwimmen. Beim Friseur war ich auch. Hin und wieder holte ich mir eine Zeitung, fand darin aber nichts über May. Vermutlich lag ihre Identität immer noch im Dunkeln. Die Zeitung kaufte ich jedesmal am Bahnhofskiosk und warf sie, nachdem ich sie bei Dunkin’ Donuts durchgeforstet hatte, sofort weg. Es stand nichts Wichtiges drin.
In der Woche hatte ich auch Yuki getroffen. Am Dienstag und Donnerstag waren wir essen gegangen, und am darauffolgenden Montag hatten wir mit dem Wagen einen Ausflug unternommen und unterwegs Musik gehört. Es machte mir Spaß, sie zu treffen. Wir hatten eins gemeinsam: Zeit zum Vertrödeln. Ihre Mutter war noch immer nicht aus dem Ausland zurück. Wenn Yuki mich nicht traf, blieb sie außer sonntags tagsüber immer zu Hause, aus Angst, man könnte sie draußen wegen Schulschwänzens aufgreifen.
»Fahren wir demnächst nach Disneyland?«, schlug ich vor.
»Da will ich nicht hin«, sagte sie schnippisch und zog eine Grimasse. »Ich hasse solche Orte.«
»Was, du magst diesen ganzen niedlichen, kitschigen, kommerziellen Mickey-Maus-Kinderkram nicht?«
»Genau«, erwiderte sie kurz und bündig.
»Aber immer zu Hause bleiben tut auch nicht gut.«
»Wie wär’s mit Hawaii?«
»Hawaii?«, fragte ich fassungslos.
»Meine Mutter hat angerufen und gefragt, ob ich nicht Lust hätte, sie auf Hawaii zu besuchen. Sie macht dort Fotos. Plötzlich ist sie besorgt, weil sie mich die ganze Zeit so vernachlässigt hat. Vorläufig kommt sie nämlich nicht nach Japan zurück, und ich gehe ohnehin nicht zur Schule. Wär’ doch nicht übel, Hawaii, oder? Außerdem würde sie die Reise für dich mitbezahlen, wenn du mitkommst – ich kann doch schlecht allein fliegen. Eine Woche, nur zum Vergnügen. Das wär’ doch was, oder?«
Ich lachte. »Wo ist denn der Unterschied zwischen Disneyland und Hawaii?«
»Na ja, auf Hawaii kann mich wenigstens niemand wegen Schulschwänzen aufgreifen.«
»Stimmt auch wieder«, sagte ich.
»Dann bist du also einverstanden?«
Ich überlegte, und je länger ich darüber nachdachte, umso besser gefiel mir die Idee. Ein Ortswechsel würde mir gut tun. In Tokyo steckte ich zur Zeit in einer Sackgasse. Mein Kopf war leer, ich hatte überhaupt keine inspirierenden Einfälle mehr. Der alte Faden war gerissen und ein neuer noch nicht in Sicht. Ich hatte das Gefühl, neben mir zu stehen und am falschen Ort die falschen Dinge zu tun. Mein Körper konnte sich mit nichts anfreunden, gleichgültig, was ich tat. Ich hatte das dunkle Gefühl, mich mit den falschen Dingen zu ernähren und sie trotzdem immer weiter zu kaufen. Und die Toten waren tot – definitiv, für alle Zeit. Kurz, ich war ziemlich ausgelaugt. Das dreitägige Verhör bei den Bullen saß mir auch noch in den Knochen.
Ich war bisher nur einmal auf Hawaii gewesen, und auch nur für einen Tag. Auf einem Flug nach Los Angeles, wo ich beruflich zu tun hatte, musste die Maschine wegen eines Defekts in Honolulu einen Zwischenstop einlegen. Die Fluggesellschaft zahlte die Übernachtung, und ich kaufte mir im Hotelshop eine Badehose und aalte mich am Strand. Es war ein paradiesischer Tag. Ja, Hawaii, wäre in der Tat nicht übel. Eine Woche faulenzen, schwimmen, Piña Colada trinken und dann
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