Tanz mit dem Schafsmann
Aschenbecher. Eine Packung Seven Stars.
Stereoanlage. Blumenvase. Darin ein Strauß Margeriten. Verstreute Kleidung auf dem Boden. Ein Bücherregal ist auch zu sehen. Die Kamera schwenkt. Kiki! Ich schließe unwillkürlich die Augen. Mache sie wieder auf. Jetzt nimmt Gotanda sie in die Arme. Zärtlich. Nein! denke ich, rufe es, laut. Ein junger Mann vier Reihen vor mir dreht sich flüchtig nach mir um. Die Hauptdarstellerin kommt ins Bild. Die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Segeljacke und Bluejeans. Rote Adidas-Turnschuhe. Eine Keksdose in den Händen. Sie betritt das Zimmer, dreht sich auf dem Absatz um und rennt weg. Gotanda richtet sich verwundert auf und blinzelt zu der Stelle, wo sie eben noch gestanden hat. Als wäre er geblendet. Kiki legt ihm eine Hand auf die Schulter und sagt lapidar: »Was ist denn los?«
Nach dem Kino schlenderte ich ziellos durch Shibuya.
Da bereits Ferien waren, wimmelte es von Schülern, die ebenfalls ins Kino gingen, sich bei McDonald’s mit verhängnisvollem Junkfood vollstopften, in Boutiquen, die ihnen von Popeye Hotdog Press, Oliver und anderen Trendmagazinen diktiert wurden, Firlefanz kauften oder ihr Taschengeld in Spielhallen verpulverten. Aus fast allen Läden plärrte lautstark Musik. Eine bizarre Kakophonie aus Stevie Wonder, Hall & Oates, Pachinkohallen-Marschmusik und Militärliedern aus rechtsextremen Propagandawagen. Vor dem Bahnhof Shibuya fanden Wahlkampagnen statt.
Ich streifte durch das Viertel und stellte mir vor, wie Gotandas schlanke, feingliedrige Finger über Kikis Rücken glitten. Als ich Harajuku erreicht hatte, ging ich weiter von Sendagaya bis zum Jingû-Stadion und von dort aus über die Aoyamadôri Richtung Friedhof bis zum Nezu-Museum. Auf dem Rückweg passierte ich das Café Figaro und nochmals Kinokuniya. Am Jintan-Gebäude vorbei kehrte ich dann wieder zum Bahnhof Shibuya zurück. Eine ziemliche Strecke. Es dämmerte bereits, als ich dort ankam. Vom Hügel aus sah ich im Schein der nach und nach angehenden Neonlichter Scharen dunkel gekleideter Angestellter, die in gleichmäßigem Tempo dahineilten wie instinktgeleitete, stromaufwärts ziehende Lachsschwärme.
Als ich in mein Apartment zurückkehrte, blinkte das rote Lämpchen des Anrufbeantworters. Ich schaltete das Licht an, zog meinen Mantel aus und holte mir eine Dose Bier aus dem Kühlschrank. Dann setzte ich mich aufs Bett und drückte die Wiedergabetaste. Die Kassette spulte zurück, die Ansage wurde abgespielt.
»Hallo, ist ja eine Ewigkeit her«, hörte ich Gotanda sagen.
18
»Hallo, ist ja eine Ewigkeit her.«
Gotandas Stimme war klar und durchdringend. Weder zu hastig noch zu langsam. Weder zu laut noch zu leise. Weder zu hektisch noch zu lahm. Eben perfekt. Ich hatte seine Stimme sofort erkannt. Sie war so unvergesslich wie sein Lächeln, seine blendend weißen Zähne, seine wohlgeformte Nase. Eigentlich habe ich nie auf seine Stimme geachtet oder mich an sie erinnert, aber offensichtlich hatte sie mein Unterbewusstsein im Nu heraufbefördert. Und zwar so lebhaft wie das Läuten einer Glocke in stiller Nacht. Erstaunlich.
»Du kannst mich heute den ganzen Abend zu Hause erreichen. Vor morgen früh gehe ich ohnehin nicht schlafen«, sagte er und nannte zweimal seine Telefonnummer. »Also bis dann.«
Klick .
Nach der Amtsvorwahl konnte er nicht weit weg wohnen. Ich schrieb seine Nummer auf und wählte sie bedächtig. Nach dem sechsten Klingelzeichen meldete sich sein Anrufbeantworter. »Ich bin leider nicht zu Hause. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht auf dem Band«, sagte eine Frauenstimme. Ich nannte Namen, Telefonnummer und Uhrzeit. Und dass ich die ganze Zeit zu Hause erreichbar sei. Komplizierte Welt. Ich legte auf und ging in die Küche, wo ich den Sellerie wusch, in Streifen schnitt und ein Dressing zubereitete. Als ich beim Essen war, klingelte das Telefon. Es war Yuki. Was ich gerade machen würde? Ich kaue gerade an einer Selleriestange und trinke ein Bier dazu, sagte ich. Wie armselig, meinte Yuki. So schlimm sei es nun auch nicht, entgegnete ich. Es gebe noch viel armseligere Dinge. Die kenne sie nur noch nicht.
»Wo steckst du denn gerade?«, fragte ich.
»Immer noch in der Wohnung in Akasaka«, antwortete sie. »Wie wär’s mit einer Spritztour?«
»Tut mir leid, aber heute geht es schlecht. Ich erwarte nämlich einen wichtigen geschäftlichen Anruf. Ein anderes Mal gerne. Übrigens, was ich dich noch fragen wollte: Du hast gestern diesen Typen mit
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