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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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hundemüde und wollte mit niemandem mehr reden. Kopfschüttelnd betrat ich die Zelle und ließ mich wortlos auf die harte Pritsche fallen. Fühlte sich vertraut an. Feuchte Matratze, schäbige Pferdedecke, Pissegestank. Zum Verzweifeln.
    »Ich schließe nicht ab«, wiederholte Fischer und ließ die Tür mit einem eisigen Klirren ins Schloss fallen. Ob verschlossen oder nicht, dieses Geräusch war schrecklich genug.
    Ich seufzte und deckte mich zu. Jemand schnarchte irgendwo laut. Das Schnarchen schien von weit her zu kommen, konnte aber genauso gut aus der Nachbarzelle stammen. Es klang wie ein Stöhnen, das aus einer angrenzenden Schicht zu mir drang, nachdem sich die Erde ohne mein Wissen in feine, endgültig getrennte Schichten verwandelt hatte. Todtraurig, unerreichbar und real.
    May! Gestern Nacht habe ich an dich gedacht. Ich weiß nicht, ob du da noch am Leben warst oder schon tot. Auf jeden Fall habe ich an dich gedacht. Daran, wie ich mit dir geschlafen habe. Wie ich dich langsam ausgezogen habe. Es war wirklich wie beim Klassentreffen. Ich fühlte mich so entspannt, als hätte jemand sämtliche Schrauben der ganzen Welt gelockert. So etwas hatte ich schon lange nicht mehr erlebt. Aber jetzt, May, kann ich nichts mehr für dich tun. Absolut nichts, so leid es mir tut. Du weißt es selbst, unser Leben hängt an einem seidenen Faden. Ich möchte Gotanda nicht in einen Skandal hineinziehen. Er lebt in einer von Illusionen beherrschten Welt. Wenn die Öffentlichkeit davon erfährt, dass er mit Prostituierten verkehrt und in eine Mordaffäre verwickelt ist, dann ist sein Image ruiniert. Keine Fernsehrollen mehr, keine Werbespots. Sie würden ihn fallen lassen. Natürlich kann man das idiotisch finden. Ein idiotisches Image in einer idiotischen Welt. Aber er sieht in mir einen Freund, dem er vertraut. Also muss ich ihn ebenfalls wie einen Freund behandeln. Das ist eine Frage der Loyalität. May, mein kleines Zicklein May, wir haben eine herrliche Nacht verbracht. Es war wundervoll, mit dir zu schlafen. Wie im Märchen. Ich weiß nicht, ob das ein Trost für dich ist, aber ich werde dich nie vergessen. Wie wir beide bis zum Morgen Schnee geschaufelt haben. Unser sinnliches Schneeschaufeln.
    Aneinander gekuschelt in einer imaginären Welt, auf Kosten des Spesenkontos. Puh, der Bär und May, das Zicklein. Wie schrecklich muss es für dich gewesen sein, erdrosselt zu werden. Du wolltest sicher noch nicht sterben. Das glaube ich zumindest. Aber ich kann nichts mehr für dich tun. Um ehrlich zu sein, ich weiß selbst nicht, ob ich richtig handle. Ich kann eben nicht anders. Das ist meine Art zu leben. Aber auch das System. Ich werde den Mund halten. Gute Nacht, May, mein kleines Zicklein. Wenigstens brauchst du nie mehr aufzuwachen. Und nie mehr zu sterben.
    Gute Nacht, sagte ich.
    Gute Nacht, hallte es in meinen Gedanken wider.
    Kuckuck, sagte May.

22
    Der folgende Tag verlief fast genauso wie der vorige. Morgens versammelten wir uns wieder im Vernehmungszimmer und nahmen schweigend das Frühstück ein: übles Kaffeegebräu und ganz annehmbare Croissants. Schöngeist lieh mir seinen Rasierapparat. Ich mag eigentlich keine Elektrorasierer, benutzte ihn aber notgedrungen. Da ich keine Zahnbürste dabeihatte, spülte ich mir den Mund aus, so gut es ging. Dann setzte das Verhör ein. Törichte, überflüssige Fragen. Eine legale Folter, die sich bis zum Mittag hinzog, schleppend wie eine aufgezogene Spielzeugschnecke. Am Ende hatten sie mich alles gefragt, was man nur fragen konnte. Das gesamte Repertoire ausgeschöpft.
    »So, ich denke, damit hätten wir’s«, sagte Fischer und legte seinen Stift beiseite.
    Als hätten sie es vorher verabredet, seufzten die beiden Kriminalbeamten im Duett. Ich seufzte ebenfalls. Die Zeitschinderei hatte vermutlich den Zweck, mich hier festzuhalten. Sie konnten mich schließlich nicht in Untersuchungshaft nehmen, nur weil sich meine Visitenkarte im Portemonnaie der Ermordeten befunden hatte. Auch wenn ich kein hieb- und stichfestes Alibi hatte. Deshalb hatten sie mich also in diesem absurden, kafkaesken Labyrinth gefangen gehalten. Bis sie durch die Ergebnisse der Spurensicherung und Obduktion mehr Klarheit hatten, ob ich als Täter in Frage kam. Ein schlechter Scherz.
    Immerhin ist das Verhör nun beendet, und ich kann nach Hause gehen. Dort werde ich erst mal ein Bad nehmen, mir die Zähne putzen und mich ordentlich rasieren. Mir einen anständigen Kaffee kochen. Und etwas

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