Tanz mit mir - Roman
angekommen. Sie war kurz davor, die Fassung zu verlieren. Wenn Angelica tanzte, war alles wunderbar. Doch in den Momenten zuvor drohten die Nerven mit ihr durchzugehen.
Wo war Tony bloß? Gerade noch war er direkt neben ihr gewesen. Sie drehte sich um und ließ den Blick über die Menschenmenge schweifen auf der Suche nach dem vertrauten Gesicht mit den neckischen, glänzenden Augen und den Augenbrauen, die wortlos jeden ihrer Schritte prüften. Doch sie erblickte nur ausdruckslose Gesichter, erwartungsvolle Mienen und feindselige Blicke.
»Und die Teilnehmer der Endrunde in der Kategorie Foxtrott, Angelica Andrews und Tony Canero!«, rief der Sprecher.
Doch Tony war nicht da.
Heisere Trommelschläge ertönten, zu denen sie eigentlich
ins Scheinwerferlicht hätten laufen sollen, bevor dann »Night and Day« beginnen würde. Die Sängerin stand am Mikrofon und wartete auf sie. Ihr mitfühlender Blick gesellte sich zu den Blicken der anderen und bohrte sich in Angelicas Gedanken, bis sie sich löchrig wie ein Nadelkissen fühlte.
Wo steckte Tony bloß?
»Angelica Andrews und Tony Canero!« Dieses Mal schwang Ungeduld in der Stimme des Moderators.
Im Traum schnürte ihr die Angst beinahe die Kehle zu. Sie blieb wie angewurzelt stehen, als die Band anhob, die ersten Takte von »Night and Day« zu spielen, und sich der Scheinwerfer über das Parkett bewegte, ohne dass Tony und sie sich im Lichtkegel befanden.
Dies war der Foxtrott! Ihr Lieblingslied! Der Liedtext, der vor Leidenschaft und Hingabe nur so strotzte, handelte von ihnen und ihrem Leben – Tag und Nacht.
Wo blieb Tony nur?
Ihre Blicke jagten durch die Menschenmenge, über furchterregende, leere Mienen, über reiche goldene Verzierungen der Logen und rote Samtschals, über fremde Gesichter und das Scheinwerferlicht, das sich ohne sie bewegte. Und dann sah sie ihren Vater, der bei den langweiligen, steifen Wertungsrichtern am Tisch saß.
»Er kommt nicht«, erklärte er, wie jedes Mal in dem Traum. »Du bist nicht gut genug für ihn.«
In Schweiß gebadet, schrak Angelica hoch. Während der Regen gegen die Scheiben trommelte, zählte sie ihre Atemzüge, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
22
Der Herbstregen peitschte weiter gegen die Windschutzscheibe, als Katie zur Arbeit fuhr und an nichts anderes denken konnte als an die Szene in Jos Zafira.
Ross hatte ihre Geburtstagsgeschenke nicht mitgenommen. Sie lagen immer noch gut versteckt im Kleiderschrank. Hannah würde bestimmt aufgebracht sein, dachte Katie. Sie würde bestimmt denken, dass Mummy ihren Geburtstag vergessen habe, obwohl sie sehr wohl daran gedacht hatte. Mummy hatte ihr sogar ein sehr schönes Geschenk besorgt, etwas, was sie sich sehr gewünscht hatte, doch Daddy …
Stopp, ermahnte sich Katie. Jetzt kannst du nichts mehr daran ändern. Kümmere dich jetzt lieber um deine Arbeit – schließlich hast du im Moment mehr als genug zu tun.
Als Katie in völlig durchnässten Pumps ihr Büro betrat, lagen stapelweise dicke Aktenordner auf ihrem Schreibtisch. Zum ersten Mal freute sie sich fast über die Unmenge an Arbeit, die sie erwartete. Es bestand absolut keine Möglichkeit, vor dem Mittagessen über irgendetwas anderes nachzudenken als über Baugenehmigungen und Enteignungsanträge.
Sie hängte ihren nassen Mantel an die Garderobe, stellte die Kaffeekanne ab und legte das Handy, das sie lautlos gestellt hatte, in den Posteingangskorb, wo sie es im Auge hatte. Falls Ross wegen eines Notfalls anrufen sollte. Dann schlug sie die erste Akte auf.
Drei Stunden später wusste Katie, dass das meiste Land in der Stadtmitte einst der ortsansässigen, reichen Familie Cartwright gehört hatte, die auch für den Bau der Memorial Hall verantwortlich gewesen war. Deren Familiengeschichte endete mit den drei Töchtern von Lady Eliza. Die kleine Ada starb an einer Grippe, Clementine und Felicity hatten nie geheiratet. Die elegante Familienvilla wurde Teil des Krankenhauses, während der größte Teil des Landbesitzes sowohl an die Gemeinde für den Siedlungsbau als auch an ein Konsortium für den Bau von Geschäften verkauft wurde, um die Kosten der Erbschaftsteuer zu begleichen. Katie wusste, dass die Mietshäuser, die man 1954 auf dem ehemaligen Familienbesitz hochgezogen hatte, die ersten Sozialwohnungen in der Stadt waren, die über Einbauküchen verfügten. Hinter vorgehaltener Hand wurde jedoch über den Zustand des Fundaments getuschelt. Als Katie schließlich die zehnte Akte öffnete,
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