Tanz mit mir - Roman
Longhamptons entdecken konnte.
Es war beschämend einfach gewesen, ihre Eltern zu verlassen, nachdem sich das Engagement in London ergeben hatte. Die Bezahlung war zwar nicht besonders gut gewesen, doch es bestand die Möglichkeit, dort wirklich guten Tanzunterricht zu bekommen und gleichzeitig erste Berufserfahrungen zu sammeln. Selbst mit Tränen in den Augen hatte ihre Mutter sie natürlich dazu noch ermutigt. »Du musst gehen, Angie«, hatte sie stolz und traurig zugleich gedrängt. »Dort wirst du von den besten Lehrern unterrichtet – diese Chance wird sich dir nicht zweimal bieten.«
Ihre Mutter hatte sie zum Ballettunterricht in die Memorial Hall geschickt und ihr die roten Ballettschuhe gekauft, die sie sich so sehr gewünscht hatte. Pauline hatte selbst zur gro ßen Schar der Longhamptoner Tänzer gehört, obwohl Angelica schon im Alter von zwölf Jahren klar gewesen war, dass es mehr die Begeisterung als ein wirkliches Talent war, das ihre Eltern dazu antrieb, über die Tanzfläche der Memorial Hall zu gleiten. Ihre Oberweite, hatte Pauline erklärt, sei ihr in die Quere gekommen, weshalb Angelica dankbar war für ihre flache Brust. Umso mehr freute sie sich jedoch, die kleinen, schmalen Füße ihrer Mutter geerbt zu haben.
Als ein Freund eines Tänzerfreundes ihr von dem Vortanzen für eine Show im Londoner West End namens Not Now, Napoleon! berichtet hatte, war es komischerweise ihr Vater gewesen, der ihr das Geld für die Zugfahrt heimlich zugesteckt hatte. Er war eigentlich nie der Typ Vater gewesen, der seine Tochter verhätschelte, doch wessen Vater hatte dies damals schon getan? Angelica wurde das Gefühl nicht los, dass es ihm ganz recht war, dass sie nach London ging, weil er Pauline wieder ganz für sich in Beschlag nehmen wollte, und nicht so sehr, weil er sich wünschte, dass sie eine Karriere in der Glitzerwelt der Tanzshows begann. »Du hast uns immer unendlich
stolz gemacht«, hatte ihre Mutter auf dem Bahnsteig geschluchzt, als sich Angelica zum tränenlosen Abschied aus dem Zugfenster gelehnt hatte.
Ihr Vater hatte immer ein wenig säuerlich dreingeschaut, und Angelica war klar gewesen, dass ihre Tanzstunden der Grund dafür gewesen waren, da ihm dadurch weniger Geld für sein Poolbillard zur Verfügung gestanden hatte.
Dennoch war er fast vor Stolz geplatzt, als sie im Juni 1966 als Angela Clarke die All Saints’ Grammar School mit der mittleren Reife abgeschlossen hatte. Sie war zwar wenige Zentimeter zu groß, um eine Ballerina zu werden, doch sie hatte genau die richtige Größe, um in London mit drei ein Meter langen Federn auf dem Kopf und Glitzersteinen an ihren Beinen in Revuen zu tanzen. In ihrer Freizeit hatte sie die Leidenschaft ihrer Mutter für den Turniertanz geteilt. Was in Longhampton so altbacken und irgendwie verblichen angemutet hatte, war in London so vollkommen anders gewesen; als hätte man den grauen Schleier entfernt, der über einem Fotoalbum gelegen hatte. Die Kostüme waren farbenfroher und gewagter gewesen, die Tanzpartner begrapschten einen nicht, und Livebands mit Musikern im Smoking hatten so lange geschmettert, bis Angelica vor Vergnügen die Ohren geklungen hatten. Und wie es sich ihre Mutter im Stillen gewünscht hatte, hatte sie zusätzlichen Tanzunterricht genommen, sooft es ihr zeitlich möglich gewesen war. Sie hatte sich kontinuierlich verbessert und lange an der neuen glamourösen Angelica gefeilt.
Sie hatte Briefe geschrieben, in denen sie ihrer Mutter von dem neuesten Klatsch und Tratsch aus der Tanzwelt berichtete, hatte ihr Schnappschüsse von sich in all den Nachtclubs geschickt und ihr spezielle Tanzschuhe zu Weihnachten geschenkt. Als junger Mensch erlebte man damals in London eine tolle Zeit – eine noch tollere sogar, wenn man jung und rank und schlank war: Ihre Storchenbeine à la Olive Oyl hatten
perfekt zu der Biba-Mode gepasst, die unter den jungen Leuten total angesagt gewesen war. Ihr Vater hatte sich nur mäßig begeistert gezeigt über die breiten Krawatten, die damals in Mode gekommen waren und die sie für ihn in der Carnaby Street als Weihnachtsgeschenk gekauft hatte – tatsächlich war er sogar fast beleidigt gewesen. »Ich bin doch nicht einer deiner Tunten-Freunde!«, hatte er zur Krönung des ersten Weihnachtstages 1969 gebrüllt. Von da an hatte sich Angelica nicht mehr um Geschenke für ihn gekümmert.
In der Schule läutete die Glocke und verkündete den Beginn der Mittagspause. Es war derselbe schrille Klang,
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