Tanz mit mir - Roman
Neuem entflammen würde …
Die Gegensprechanlage brummte, und Schwester Jones’ Stimme riss Lauren unsanft aus ihren Phantasien. »Lauren? Wird das heute noch einmal was mit dem Tee?«
Lauren legte die Akten in Dr. Carthys Korb zurück. »Ich bin schon auf dem Weg«, antwortete sie, während Sue die Augen verdrehte und die Eingangstür für die ersten Patienten öffnete, die vor der Arbeit vorbeikamen.
Angelica näherte sich zehn Minuten vor ihrem Zehn-Uhr-Termin der Praxis. Lauren beobachtete durch das große Fenster hindurch, wie sie mit kerzengeradem Rücken die Straße entlangging und dabei sehr genau und anmutig die Füße setzte. Doch sie hielt den Kopf gesenkt und wirkte geistesabwesend. Sie schien sogar so sehr in ihre Gedanken vertieft zu sein, dass sie fast vergessen hätte, Mr. Watters zu danken, der ihr nach seiner Blutdruckmessung galant die Tür aufhielt.
Laurens Neugier verwandelte sich in Sorge, als sie Angelicas müdes Gesicht erblickte.
»Hallo, Angelica«, grüßte sie mit einem strahlenden Lächeln.
Es war seltsam, sie hier in der Praxis zu sehen, außerhalb des gewohnten Umfeldes der Memorial Hall. Es kam Lauren fast so vor, als träfe sie ein bekanntes Gesicht aus einer
Seifenoper im Supermarkt. Neben allen anderen Patienten wirkte Angelica sehr viel farbenfroher. Sie hatte ihr schwarz glänzendes Haar genauso glatt zurückgekämmt wie in der Tanzstunde, und obwohl sie heute nicht ihr Tanzkleid trug, war ihre Kleidung äußerst schick und wirkte fast französisch. Unter ihrem weiten roten Mantel trug sie einen cremefarbenen Kaschmirpullover, den sie mit einem adretten Wollrock kombiniert hatte.
Genau dies würde ich zu einem vornehmen Lunch in London anziehen, dachte Lauren und hätte sich anschließend für diesen Gedanken ohrfeigen können.
Angelica blinzelte und war erstaunt, Lauren hier anzutreffen. Doch sie erholte sich schnell von der Überraschung und erwiderte Laurens Lächeln.
»Hallo!«, grüßte sie. »Wie klappt es mit dem Foxtrott?«
»Oh, gar nicht mal so schlecht!«
»Üben Sie auch fleißig?«
»Ähm …« Lauren war eine schlechte Lügnerin.
Angelica wackelte mit dem Finger. »Diesen Tanz lernt man nur durch Übung. Sie müssen die Schritte kennen, damit Sie darüber nicht mehr nachdenken müssen. Es ist wie Autofahren!«
»Genau das Gleiche hat mein Vater auch gesagt«, erklärte Lauren verdrießlich. »Aber er hatte auch immerhin vierzig Jahre Zeit, um den Tanz zu lernen. Er und Mum können sogar diesen komplizierteren Foxtrott mühelos tanzen. Sie haben ihn mir vor ein paar Tagen gezeigt.«
»Ach, tatsächlich? Dann müssen Sie ihn uns bei der nächsten Probe vorführen!«
Kathleen lief an ihnen vorbei und prustete vor Lachen. »Was? Unsere Lauren? Foxtrott? Das glaube ich nicht. Nicht wahr, Sue? Unser ungelenker, großer Vogel hier soll tanzen können?«
Sue antwortete etwas, das Lauren jedoch nicht verstand,
doch ihre Worte endeten mit »… ach du meine Güte!«, und ließen Kathleen in wildes Gegacker ausbrechen.
»Eigentlich ist Lauren sogar eine der Besten im Kurs«, betonte Angelica, als Lauren zusammenzuckte.
Doch auf dem Weg zum Medikamentenschrank gackerte Kathleen unbeirrt weiter.
»Sie machen große Fortschritte«, erklärte Angelica und blickte Lauren mit ihren blauen Augen fest an, bis Lauren das seltsame Gefühl bekam, dass sie in der Tat vielleicht gar nicht mal so schlecht war. »Sie verfügen über eine wunderbare Haltung. Dies haben Sie Ihrer Größe zu verdanken. Sie werden schon noch sehen, wie atemberaubend Sie bei der Hochzeitsfeier als Aschenputtel tanzen werden! Warten Sie es nur ab!«
»Dornröschen«, verbesserte Lauren, die vollkommen gelähmt war von der Vorstellung, wie sie und Chris von Sternennebel umgeben dahintanzen würden.
»Ganz wie Sie wollen«, strahlte Angelica. Lauren fragte sich, ob das Gefühl wohl dem glich, wenn man in einem dieser missionarischen Gebetstreffen saß, wo einem eingeredet wurde, dass man von nun an auf den Rollstuhl verzichten könne. »Wenn die Musik beginnt, werden Sie sich wie jede Prinzessin bewegen, die Ihnen einfällt.«
Lauren seufzte glücklich, doch dann hatte sie plötzlich ein realistischeres Bild von Chris und seinen beiden linken Füßen vor Augen. Sie seufzte erneut, dieses Mal jedoch war ihre Freude deutlich gedämpft.
Sie schüttelte sich. Angelica war nicht hergekommen, um über ihre Tanzkünste zu sprechen. Warum war sie überhaupt hier? Im Computer waren keine
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