Tanz, Pueppchen, Tanz
See her wehende Wind zerzaust ihr Haar in hundert kleine Strähnchen, die ihr ins Gesicht schlagen, stemmt sich ihr entgegen, als sie die halb geöffnete Tür aufstoßen will, und fegt schließlich an ihr vorbei in das Marmorfoyer, als wollte auch er der Kälte entkommen. Zitternd streicht Amanda sich die Haare aus den Augen und überfliegt die Liste der Bewohner, bis sie schließlich Bens Namen entdeckt und die entsprechende Nummer drückt.
»Komm hoch. Nummer zehn-zwölf, falls du es vergessen hast«, erklärt er über die Gegensprechanlage, ohne zu fragen, wer dort ist. Hat er sie mit dem Taxi ankommen sehen? Hat er eine Eckwohnung, aus der er sowohl auf den Ontario-See als auch auf den Lake Shore Boulevard blicken kann? Mit einem Summen öffnet sich die Innentür, und Amanda eilt in die große, ebenfalls in Marmor gehaltene Lobby, wo sie flüchtig die geschmackvolle Einrichtung und die modernen Wandbehänge neben den Fahrstühlen bewundert. Zum Glück steht ein Aufzug mit offener Tür bereit, und sie drückt auf den Knopf für den 10. Stock.
»Wieso hast du so lange gebraucht?«, fragt er, als er die Tür öffnet. Dann stutzt er und fragt überrascht: »Amanda?«
»Weißt du nicht, dass es gefährlich ist, Leute ins Haus zu lassen, ohne zu fragen, wer es ist?«
»Ich habe angenommen, ich wüsste, wer es ist.« Er blickt den Flur hinunter.
»Man darf sich nie auf Vermutungen verlassen. Hat man dir das im Jurastudium nicht beigebracht? Willst du mich jetzt hereinbitten oder was?«
Ben blickt ein weiteres Mal in den leeren Flur, als würde er sich vielleicht doch lieber für »Oder was« entscheiden, bevor er zur Seite tritt, um sie hereinzulassen. »Was machst du denn hier?«, fragt er und sieht zu, wie sie sich auf den hohen schwarzen Tisch unter dem ovalen Spiegel in seinem kleinen Flur stützt und die Stiefel auszieht. »Gütiger Gott – du bist bei dem Wetter ohne Strümpfe rausgegangen?«
»Ich hatte es eilig.« Sie zieht ihren Mantel aus. »Können wir den irgendwo aufhängen?«
»Kannst du mir sagen, was du hier machst?«
»Ich muss dir etwas zeigen?«
»Du meinst, außer deinen lila Zehen?«
»Passend zu meinem Pullover«, albert Amanda, geht wie selbstverständlich in sein Wohnzimmer und stellt fest, dass sie sich unter den gegebenen Umständen eigenartig wohl fühlt. Immerhin ist ihr kalt, es ist kurz vor Mitternacht, sie steht mit nackten Füßen und steif gefrorenen Zehen in der Wohnung ihres Ex-Mannes, welcher offensichtlich nervös die Ankunft seiner neuen Freundin erwartet. Ganz zu schweigen davon, dass sie eine Handtasche umklammert hält, die schwer beladen ist mit verwirrenden neuen Informationen. Und trotzdem fühlt sie
sich … wie? Glücklich. Friedlich. Ja, sogar gelassen. Wie das Renoir-Mädchen auf der Schaukel, denkt sie und beugt sich in einen imaginären Sonnenstrahl vor.
»Hast du getrunken?«, fragt Ben, der ihr ins Wohnzimmer gefolgt ist.
»Nein, obwohl das eine wunderbare Idee wäre.«
Er zuckt mit den Schultern, als hätte er sich damit abgefunden, nicht mehr Herr seines eigenen Refugiums zu sein.
»Was darf es sein?«
»Eine Tasse Tee?«
»Du willst einen Tee?«
»Pfirsich-Himbeere, wenn sich das machen lässt.«
»Pfirsich-Himbeere«, wiederholt er murmelnd und geht kopfschüttelnd in die Küche.
Amanda lässt den Blick durch das leger möblierte Wohnzimmer und den Essbereich schweifen. Die Wände sind beige, das Sofa hat einen sanft karamellfarbenen Wildlederbezug, der nicht ganz zu dem schwarzen Sessel direkt gegenüber passt. Um einen rechteckigen Glastisch stehen sechs rauchgraue Plastikstühle, an der Wand hängen mehrere abstrakte Gemälde mit geometrischen Figuren, auf der anderen Seite ist die verglaste Front mit Blick auf den See. Amanda geht zum Fenster, lehnt ihre Stirn an die Scheibe, späht in die Dunkelheit und hat das Gefühl, als könnte sie beinahe das Rauschen der Wellen des eisigen Ontario-Sees hören.
»Ich habe keinen Pfirsich-Himbeer-Tee«, verkündet Ben aus der Küche. »Ich habe nur Red Rose.«
»Dann eben Red Rose.« Amanda sieht von der Tür aus zu, wie Ben den Kessel mit Wasser füllt und einen Teebeutel in einen mit aufgedruckten Sonnenblumen verzierten Becher hängt. »Ich mag deine Wohnung«, erklärt sie ihm und setzt sich an den kleinen Glastisch.
»Warum bist du hier?«
»Ich weiß, wer Turk ist.«
»Was? Wie?«
»Ich habe etwas gefunden. Im Haus meiner Mutter.«
Ben setzt sich ihr gegenüber, beugt sich auf die
Weitere Kostenlose Bücher