Tanz, Pueppchen, Tanz
Tatsache, dass Hayley Mallins meine Schwester ist.«
Gwen Price nickt, und Tränen fließen über ihre Wangen.
»Wie geht es ihr?«
»Nun, sie ist natürlich sehr aufgewühlt.«
»Sie muss mich hassen.«
»Sie hasst dich nicht.«
»Wirklich? Ist das wahr?«
Amanda zuckt die Achseln und fragt sich, wer überhaupt noch weiß, was wahr ist.
»Und die Kinder? Wie geht es ihnen?«
»Sie halten sich wacker. Sie wissen die ganze Wahrheit noch nicht.«
Wieder nickt Gwen. »Nein, sie sind noch viel zu jung, um es zu verstehen.«
»Wir sind alle zu jung, um es zu verstehen«, sagt Amanda. »Ich weiß jedenfalls, dass ich es nicht begreifen kann, egal wie oft ich es wiederhole, und egal wie sehr ich mich anstrenge, den Worten einen Sinn abzuringen. Deshalb erzähl du mir, Mutter, wie so etwas passieren konnte? Und wie konntest du es all die Jahre vor mir geheim halten?«
»Wann hätte ich es dir erzählen sollen?«, fragt ihre Mutter zurück. »Als du ein Baby warst und deine Schwester vom Erdboden verschwunden ist? Als aus Tagen Wochen, aus Wochen Monate und dann Jahre wurden und die Polizei längst zu anderen, dringenderen Fällen übergegangen war? Als ich in einem Nebel aus Alkohol und Antidepressiva versunken war? Als ich zu weggetreten war, um aufzustehen, zu betrunken, um geradeaus zu gucken? Als ich jedes Mal, wenn ich dich angesehen habe, deine Schwester vor Augen hatte?«
»Also hast du ganz aufgehört, mich anzugucken? Ist es das?«
Ihre Mutter senkt den Kopf. »Es tut mir schrecklich Leid.«
»Ah ja, ich nehme an, damit ist alles wieder gut«, faucht Amanda.
»Ich erwarte nicht, dass du das verstehst.«
»Du hast mir nie eine Chance gegeben, es zu verstehen.«
»Du warst ein Kind.«
»Nicht sehr lange. Dafür hast du gesorgt.«
»Es tut mir schrecklich Leid«, sagt ihre Mutter noch einmal.
Aber mit einer simplen Entschuldigung will Amanda ihre Mutter nicht vom Haken lassen. »Und was war später? Als ich erwachsen war? Warum hast du es mir da nicht erzählt? Warum hat Daddy es mir nicht erzählt?«
»Er wollte es«, erwidert ihre Mutter schlicht. »Ich habe ihn nicht gelassen. Ich habe ihm das Versprechen abgenommen …« Sie stockt. »Außerdem war es da schon zu spät. Ich war eine verbitterte wütende Frau mit einer verbitterten wütenden Tochter, die nichts mit mir zu tun haben wollte.«
»Willst du vielleicht behaupten, es wäre meine Schuld, dass du es mir nicht gesagt hast?«
»Nein, Gott bewahre«, antwortet ihre Mutter rasch und greift nach Amandas Händen. »Wie könnte es deine Schuld sein? Es war meine Schuld. Alles war meine Schuld. Er hat mich gewarnt. Er hat gesagt, wenn ich ihm das Geld, das ich gestohlen hatte, nicht zurückgeben würde, würde er es mir heimzahlen. Er hat es mir gesagt, aber ich habe nicht zugehört. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er so herzlos sein würde. So böse.«
Amanda spürt die Berührung ihrer Mutter wie einen elektrischen Schlag, springt auf und vergräbt die Hände in den Taschen ihrer blauen Hose. »Und … was? Soll ich jetzt Mitleid mit dir haben? Soll ich dir vergeben? Ist es das?«
»Ich erwarte nicht, dass du mir vergibst.«
»Gut. Denn das wird auch nicht passieren. Glaub mir – das wird nie passieren.«
»Erzählen Sie uns von dem Nachmittag, als Sie Rodney Turek und Ihre Tochter im Hotel gesehen haben«, rät Ben ruhig von seinem Platz.
Gwen Price lehnt ihren Kopf an die gebrochen weiße Wand und schließt die Augen. »Ich war mit meiner Freundin Corinne im Kino. Und hinterher waren wir auf einen Tee ins Four Seasons Hotel gegangen, wie wir es jede Woche tun. Wir hatten unsere Tassen eben leer getrunken und wollten, glaube ich, gerade aufbrechen, es fällt mir schwer, mich genau zu erinnern. Aber ich weiß noch, dass ich ein Kinderlachen gehört und in die Halle geblickt habe. Und da waren sie.«
»Sie haben sie nach all den Jahren gleich wiedererkannt?«
Gwen schlägt die Augen wieder auf und starrt auf die gegenüberliegende Wand, als ob die Szene auf die glatte Oberfläche projiziert würde. »Das kleine Mädchen habe ich zuerst entdeckt, und es war, als hätte ich ein Gespenst gesehen. Sie sieht genau aus wie ihre Mutter in dem Alter. Nun, ihr habt ja das Foto gesehen. Eine Sekunde lang dachte ich, dass es wirklich Lucy ist, bis mir klar wurde, dass das unmöglich war. Fünfundzwanzig Jahre waren vergangen. Es konnte nicht Lucy sein.« Gwens Blick zuckt hin und her. »Ich dachte, mein Bewusstsein spielt mir einen
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