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Tanz, Pueppchen, Tanz

Tanz, Pueppchen, Tanz

Titel: Tanz, Pueppchen, Tanz Kostenlos Bücher Online Lesen
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»Lucy.«
    »Mutter«, kommt die stumme Antwort.
    Die beiden Frauen fallen sich in die Arme, die Hand ihrer Mutter gräbt sich in die weiche Wolle von Lucys Pullover. Nach etlichen Minuten lösen sie sich langsam und zögernd voneinander, tasten im Gesicht der jeweils anderen behutsam nach den Spuren, die die Zeit hinterlassen hat, und zeichnen jede neue, unvertraute Linie nach. Amanda saugt die Szene aus der Distanz in sich auf, beobachtet, wie ihre Mutter mindestens ein Dutzend Küsse auf die Wangen ihrer Schwester drückt, und versucht, sich nicht auszumalen, wie sich diese Lippen auf ihrer Haut anfühlen würden.
    »Ich liebe dich«, hört sie.
    »Ich liebe dich«, antwortet jemand flüsternd.
    Amanda wischt eine ungewollte Träne weg, während die Frauen mühelos wieder in die Arme der jeweils anderen sinken und auf ihrer unsichtbaren Schaukel rhythmisch hin- und herschwingen. Sie schüttelt ungeduldig den Kopf. Was zum Teufel ist hier los? Sie ist jedenfalls bestimmt nicht eifersüchtig oder wütend. Sie will weiß Gott nicht Teil dieser demonstrativen Gefühlsduselei sein. Also was ist mit ihr los? Warum fühlt sie sich außen vor? Warum kommen ihr die Tränen wegen zwei Frauen, die sie kaum kennt und nicht kennen will? Alles hat sich in Wohlgefallen aufgelöst. Ihre Mutter und ihre Schwester sind wieder vereinigt. Die Staatsanwaltschaft wird für einen Deal aufgeschlossen sein. Und sie kann endlich ein für alle Mal aus dieser elenden Stadt verschwinden. Da kann man mal sehen. Alle haben gewonnen. Alles ist gut.
    Alles ist verdammt noch mal gut.
    »Püppchen?«
    Das Wort weht ihr entgegen, zieht sie an wie ein lockender Finger. Verwundert sieht Amanda, wie sich der Kreis, den ihre Mutter und ihre Schwester bilden, öffnet wie eine Blume und beide sehnsüchtig die Arme zu ihr ausstrecken. Nein, denkt sie, ich will nicht. Es ist nicht genug Platz für mich da. Ich falle herunter. Ich traue mich nicht. Es ist zu gefährlich.
    Aber noch während Amanda den Kopf schüttelt, treibt ihr Körper sie nach vorne. Sie spürt, wie ihre Schwester ihren Ellenbogen fasst, spürt den Arm ihrer Mutter, der sich um ihren Rücken legt, und gemeinsam heben die beiden Frauen sie hoch. Amanda steigt auf die Schaukel.

35
    Sie fahren schweigend zum Flughafen. Es ist ein wunderschöner wolkenloser Tag, die Sonne ein gelber Ball am tiefblauen Himmel. Die Art Tag, die einen glauben lässt, es wäre wärmer, als es ist, denkt Amanda, zieht ihren neuen Parka fester um sich und fragt sich, wann sie in Florida je Gelegenheit bekommen wird, ihn zu tragen. Es war dumm, so viel Geld für etwas auszugeben, für das sie so wenig Verwendung hat. Und ausgerechnet Rot. Was um alles in der Welt hatte sie geritten?
    Sie war offensichtlich nicht sie selbst gewesen. Meine böse Zwillingsschwester, denkt sie mit einem stillen Kichern. Oder vielleicht auch ihre gute. Es war jedenfalls bestimmt dieses andere Selbst, das es Ben erlaubt hatte, sie zum Flughafen zu bringen, als er heute Morgen um halb sieben vor dem Haus ihrer Mutter stand, obwohl sie sich bereits am Tag zuvor voneinander verabschiedet hatten. Waren sie sich nicht einig gewesen, dass es so für beide leichter sein würde und auf jeden Fall ein erwachsener, angemessener und ruhiger Abschluss einer turbulenten Woche voller Überraschungen? Hatten sie sich nicht züchtig umarmt und einander alles Gute gewünscht? Hatte er nicht versprochen, sie über die Genesung ihrer Mutter auf dem Laufenden zu halten? Hatte sie nicht versprochen, in Kontakt zu bleiben? Hatten sie sich nicht gegenseitig zu einem sauber erledigten Job gratuliert?
    Der zuständige Staatsanwalt hatte sich mehrere Stunden lang störrisch gesträubt, aber am Ende des gestrigen Tages hatte die Vernunft gesiegt, und er hatte mit Ben einen Deal ausgehandelt, bei dem ihre Mutter auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit plädieren und eine minimal kurze Zeit in einer psychiatrischen Einrichtung verbringen würde. Bis sie vermutlich in sechs Monaten entlassen wurde, würde Lucy ihre Angelegenheiten in England geregelt haben und mit ihren Kindern nach Toronto gekommen sein. Dank der kürzlich verstorbenen Mutter von Rodney Turek hat sie sogar ein kleines Guthaben auf der Bank. Ganz zu schweigen von den hunderttausend Dollar, die noch in dem Schließfach liegen.
    Das war also das. Fall abgeschlossen. Mission erfüllt. Auftrag erledigt.
    »Alles okay?«, bricht Ben das lange Schweigen mit fester und ruhiger Stimme, als ob er mit ihrer

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