Tanz, Pueppchen, Tanz
machen? Ich hatte meinen eigenen Vater geheiratet. Ich hatte Kinder von ihm bekommen. Er hatte bestimmt Recht – wenn irgendjemand das erfahren würde, würde man mir die Kinder wegnehmen.«
»Niemand wird dir deine Kinder wegnehmen«, versichert Amanda ihr erneut.
»Und dann ist Johns Mutter gestorben. Und John hat darauf bestanden, dass wir hierher zurückkommen, um ihren Nachlass zu regeln. Er sagte, es ginge um eine Menge Geld und dass nach all der langen Zeit keine Gefahr mehr bestehen würde. Die Kinder waren ziemlich aufgeregt. Sie waren noch nie außerhalb von Sutton gewesen. Und so sind wir nach Toronto gekommen, ins Four Seasons Hotel.«
»Und meine … unsere Mutter saß in der Lobby und trank Tee.«
»Ja. Kannst du dir das vorstellen? Sie war zum Tee mit einer Freundin hier.« Lucy lacht unter Tränen. »Nenn es, wie du willst – Zufall, Schicksal, göttliche Intervention. Was auch immer. Da saß sie jedenfalls – und trank Tee.«
»Und hat dich mit den Kindern gesehen …«
»Und sie wusste sofort, was geschehen war.«
»Und am nächsten Tag ist sie zurückgekommen und hat ihn getötet.«
»Als der Polizist vor unserer Tür stand und mir erklärte, dass John erschossen worden war«, sagt Lucy, »wusste ich sofort, dass sie es war.«
»Woher wusstest du das?«
»Weil ich das Gleiche getan hätte.« Lucy atmet ein weiteres Mal tief aus, als hätte sie fünfundzwanzig Jahre lang die Luft angehalten.
Und vielleicht hat sie das ja auch, denkt Amanda und nimmt ihre Schwester in den Arm. »Das würde jede Mutter tun«, erklärt sie ihr und drückt sie fest an sich. »Jede Mutter.«
34
Ein paar der verrückten Gedanken, die Amanda durch den Kopf rasen, als sie ihre Mutter am Freitagmorgen sieht: Für eine geprügelte Frau von einundsechzig Jahren, der man kürzlich den Magen ausgepumpt hat, sieht ihre Mutter erstaunlich schön aus; das schreckliche Grün der Gefangenenkleidung passt farblich gut zu den Blutergüssen in ihrem Gesicht; hinter den Blutergüssen kann sie vage die Züge ihrer eben erst entdeckten Schwester erkennen; sie möchte ihre Mutter in den Arm nehmen, die Blutergüsse mit Küssen wegzaubern und ihr erklären, dass sie sie versteht.
»Das war eine verdammt dumme Aktion, die du da gebracht hast«, sagt sie stattdessen und weigert sich störrisch, Mitleid mit der Frau zu empfinden oder sich von dem flüchtigen Einblick, den sie in das Verhalten und die Motive ihrer Mutter bekommen hat, umstimmen zu lassen. Mitleid kann Schuld nicht ausradieren. Verständnis kann nicht jede Kluft überbrücken. Und außerdem war sie viel zu lange wütend auf ihre Mutter, um jetzt einfach loszulassen. Diese Wut hat sie seit ihrer Kindheit angetrieben. Wenn sie darauf verzichtet, was bleibt dann von ihr übrig? Wer wird sie sein?
»Ja, das war sehr dumm«, stimmt ihre Mutter zu und blickt von Amanda zu Ben. Sie stehen in der Halle des neuen Gerichtsgebäudes ungefähr an derselben Stelle, wo sie Anfang der Woche zusammengekommen sind. Mehrere Wärter beobachten sie aus diskreter Entfernung. Das Gericht ist noch nicht zusammengetreten.
»Wie geht es Ihnen, Mrs. Price?«, fragt Ben.
»Viel besser. Danke. Ich kann es nicht erwarten, die Sache hinter mich zu bringen.«
»Wir müssen reden, Mutter.«
»Ich weiß.«
Rechtfertigte der Verlust der einen Tochter, dass ihre Mutter die andere vernachlässigt hatte? Hatte es ihr das Recht gegeben, sich ins Vergessen zu trinken und sich bis zur Psychose mit Medikamenten voll zu stopfen? Gab es ihr das Recht zur Selbstjustiz?
»Warum setzen wir uns nicht?« Ben weist auf eine Bank an der gegenüberliegenden Wand.
Amanda wappnet sich für einen Streit und ist überrascht, als es nicht dazu kommt. Sie steht vielmehr unvermittelt allein in der Mitte der Halle, während Ben ihre Mutter zu der langen Holzbank führt. Sie sieht sich mehrmals verlegen um, bevor sie ihnen folgt. Als sie sich neben ihre Mutter setzt, merkt sie, dass sie am ganzen Körper zittert. Ben hockt am anderen Ende. »Wir haben mit Hayley Mallins gesprochen«, beginnt sie. »Wir wissen …«
»… alles«, sagt Gwen Price leise. »Ja, ich glaube, das hast du bereits im Krankenhaus erwähnt.«
»Warum hast du es mir nicht erzählt?«
»Was genau sollte ich dir denn erzählen?«
»Alles«, sagt Amanda, das Wort ihrer Mutter aufgreifend, das einzige, das unter den Umständen angemessen erscheint.
»Was sollte ich sagen? Wo sollte ich anfangen?«
»Wie wär’s zum Beispiel mit der
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