Tanz, Pueppchen, Tanz
nicht angelassen, hofft sie, greift jedoch wie mehrere Frauen aus der Jury dann doch in ihre Handtasche. Der Lateinamerikaner klopft sein Jackett ab. Der Staatsanwalt sieht vorwurfsvoll seine Assistentin an, aber sie reißt die Augen kopfschüttelnd auf, als wollte sie sagen: ich nicht.
»Oh mein Gott«, ruft die Zeugin plötzlich, und alle Farbe weicht aus ihrem ohnehin blassen Gesicht, als sie einen riesigen Leinenbeutel vom Boden aufhebt und darin herumkramt, während die Melodie immer lauter und aufdringlicher wird.
Camptown ladies sing dis song …
»Tut mir Leid«, entschuldigt sie sich bei dem Richter, der sie über die Metallfassung einer Lesebrille hinweg tadelnd ansieht, während sie ihr Handy abschaltet und wieder in ihre Tasche wirft. »Ich hab den Leuten gesagt, sie sollen mich nicht anrufen«, entschuldigt sie sich.
»Lassen Sie Ihr Telefon heute Nachmittag bitte zu Hause«, erklärt der Richter knapp und nutzt die Gelegenheit, die Sitzung für die Mittagspause zu unterbrechen. »Und Ihr Kaugummi auch«, fügt er noch hinzu, bevor er alle Anwesenden auffordert, sich um vierzehn Uhr wieder einzufinden.
»Und wo gehen wir essen?«, fragt Derek Clemens lässig und streift beim Aufstehen Amandas Arm.
»Ich esse mittags nicht.« Amanda sammelt ihre Unterlagen ein und verstaut sie in ihrem Aktenkoffer. »Ich schlage vor, Sie holen sich in der Cafeteria was zu beißen.« Sofort bereut sie ihre Wortwahl. »Ich treffe Sie in einer Stunde wieder hier.«
»Wohin gehen Sie?«, hört sie ihn fragen, ist jedoch schon auf halbem Weg den Mittelgang des Gerichtssaals hinunter. Als sie die Halle betritt und auf die Fahrstühle auf der rechten Seite zusteuert, hört sie wie von ferne das Tosen des Ozeans. Ein Fahrstuhl öffnet sich in dem Moment, als sie zur Tür kommt, was sie als gutes Omen nimmt. Sie betritt die Kabine und blickt auf die Uhr. Wenn sie sich beeilt, kommt sie gerade noch rechtzeitig zum Beginn des Spinning-Kurses in ihrem Fitness-Studio.
Während sie die Olive Street bis zur Clematis Street hinuntereilt, hört sie die Mailbox ihres Handys ab. Sie hat drei Nachrichten. Zwei stammen von Janet Berg, die in der Wohnung direkt unter ihr lebt und mit deren Ehemann Amanda vor einigen Monaten eine kurze und nicht weiter bemerkenswerte Affäre hatte. Ist es möglich, dass Janet davon erfahren hat? Amanda löscht rasch beide Nachrichten und hört sich die dritte an, die zum Glück von ihrer Sekretärin Kelly Jamieson ist. Amanda hat die gnadenlos muntere junge Frau mit den stacheligen roten Haaren von ihrer Vorgängerin bei Beatty und Rowe geerbt, einer Frau, die offenbar enttäuscht davon, überarbeitetes und unterbezahltes Mitglied einer der am meisten beschäftigten Kanzleien in der Stadt zu sein, es vorgezogen hatte, die Vorzeigeehefrau eines alternden Schwerenöters zu werden.
Dagegen ist nichts einzuwenden, denkt Amanda, als sie sich der Kreuzung Olive und Clematis Street nähert. Sie findet den Berufszweig Vorzeigeehefrau durchaus ehrenhaft.
Schließlich war sie selbst mal eine.
Sie ruft im Büro an und fängt an zu reden, bevor ihre Sekretärin Hallo sagen kann. »Was gibt’s, Kelly?« Sie überquert die Straße, während die Ampel von Dunkelgelb auf Rot umspringt.
»Gerald Rayner hat angerufen, um zu fragen, ob Sie einer weiteren Verschiebung im Fall Buford zustimmen; Naxine Fisher möchte wissen, ob Sie am Mittwoch um elf statt am Donnerstag um zehn kommen können; Ellie hat angerufen, um Sie an das Mittagessen morgen zu erinnern; Ron sagt, er bräuchte sie bei einem Termin am Freitag; und ein Ben Myers aus Toronto hat angerufen. Er möchte, dass Sie ihn zurückrufen; er sagt, es sei dringend. Er hat seine Nummer hinterlassen.«
Amanda bleibt wie angewurzelt mitten auf der Straße stehen. »Was haben Sie gesagt?«
»Ben Myers aus Toronto hat angerufen«, wiederholt ihre Sekretärin. »Sie stammen doch aus Toronto, oder?«
Amanda leckt frische Schweißperlen von ihrer Oberlippe.
Ein Auto hupt, kurz danach ein weiteres. Amanda versucht, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber erst als sie mehrere Wagen ungeduldig auf sich zurollen sieht, setzen sich ihre Beine widerwillig in Bewegung.
Püppchen!, hört sie ferne Stimmen rufen, während sie sich durch den fließenden Verkehr einen Weg auf die andere Straßenseite bahnt.
»Amanda? Amanda, sind Sie noch da?«
»Ich melde mich später.« Amanda schaltet das Handy aus und lässt es wieder in ihre Handtasche fallen. Mehrere Sekunden steht
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