Tanz, Pueppchen, Tanz
zurückbringen. Dafür ist es fünfundzwanzig Jahre zu spät.«
Amanda trinkt ihr Glas leer und lässt sich von Rachel nachschenken. »Wäre es nicht möglich, nur theoretisch«, beginnt sie langsam, »dass der Erschossene tatsächlich Ihr Bruder war? Sie haben selbst gesagt – es ist fünfundzwanzig Jahre her«, spricht sie eilig weiter, bevor Rachel widersprechen kann. »In einem Vierteljahrhundert können sich Menschen stark verändern. Sie werden älter, nehmen zu oder lassen sich einen Schnurrbart wachsen.«
»Aber sie verschwinden nicht grundlos.«
»Vielleicht hatte er einen Grund. Sie sagten doch, dass er ständig irgendwelchen Ärger gehabt hätte. Vielleicht ist ihm irgendwas über den Kopf gewachsen, und er musste die Stadt überstürzt verlassen. Vielleicht dachte er, es wäre das Beste, Ihnen nichts zu erzählen. Vielleicht hat er beschlossen, woanders neu anzufangen. Vielleicht ist er irgendwann nach England gezogen, hat geheiratet und eine Familie gegründet …«
»Er hat bestimmt nicht geheiratet und eine Familie gegründet.«
»Wie können Sie sich dessen so sicher sein?«
»Weil mein Bruder schwul war«, sagt Rachel und gießt sich selbst ein zweites Glas Wein ein. »Und erzählen Sie mir jetzt bitte nicht, dass schwule Männer oft heiraten und eine Familie haben, denn das weiß ich selbst. Aber ich weiß auch, dass der Mann, den Ihre Mandantin erschossen hat, nicht mein Bruder war.«
»Dann war es ein anderer John Mallins.« Amanda verspürt einen leichten Schwindel. Kein Wunder, denkt sie und stellt ihr Weinglas auf den Boden. Sie drehen sich im Kreis.
Nach einer langen Pause fragt Rachel: »Um was wollen wir wetten, dass der Geburtstag, der in John Mallins’ Pass steht, der 14. Juli ist?«
Amanda schweigt. Ein nagendes Gefühl in der Magengrube sagt ihr, dass sie die Wette verlieren würde.
»Hören Sie, Sie haben doch gesagt, dass Sie die Frau vertreten, die das Schwein erschossen hat. Warum fragen Sie sie nicht einfach, für wen sie ihn gehalten hat, als sie ihn mit Kugeln voll gepumpt hat?«
Und Sie glauben, ich wäre stur, will Amanda rufen. »Was ist mit diesem Typen, mit dem sich Ihr Bruder eingelassen hat? Hat Johnny je einen Namen genannt?«
Rachel schüttelte den Kopf. »Er hat ihn Turk genannt. Offenbar ein Spitzname.«
»Ich hasse Spitznamen«, murmelt Amanda.
»Ich auch. Aber ich mag diesen Wein. Möchten Sie noch ein Glas?«
Amanda hält ihr leeres Weinglas hoch und lässt sich noch einmal nachschenken. »Danke«, sagt sie und trinkt hastig mehrere Schlucke. »Ich sollte wahrscheinlich demnächst besser gehen und Sie packen lassen.«
»Oh, ich fahre nirgendwohin. Das hab ich bloß gesagt, damit Sie Ihren Arsch hochkriegen.« Rachel geht zu dem Kleiderschrank und holt Amandas Mantel. »Ist es Ihnen darin warm genug? Sieht ein bisschen fadenscheinig aus.«
Als sie in die Ärmel des Mantels schlüpft, denkt Amanda, dass das auch eine durchaus passende Beschreibung für ihr ganzes augenblickliches Leben ist. »Es geht ganz gut, danke.« Sie öffnet die Wohnungstür und tritt in den Flur.
»Und nochmals vielen Dank für den Wein.«
»Amanda«, ruft Rachel ihr nach, als sie schon auf dem Weg zu den Fahrstühlen am Ende des Flurs ist. Die Worte halten sie zurück wie ein Angelhaken. »Sie sagen mir doch Bescheid, wenn ich mit dem 14. Juli Recht hatte, oder?«
Eine Aufzugtür öffnet sich, und Amanda betritt die Kabine.
Zwei Dinge, für die Amanda dankbar ist: Das Zimmerpersonal hat erstens ihren Badezimmerboden gewischt, frische Handtücher aufgehängt und das Zimmer ganz allgemein in seinen ursprünglichen makellosen Zustand zurückversetzt und zweitens ihr Weinglas nicht abgeräumt.
Sie kippt Letzteres hinunter, während sie Ersteres bewundert, und überlegt, ob sie Ben anrufen soll. Was hast du gemacht, kann sie ihn förmlich brüllen hören. Was hast du gemacht? Es war schon schlimm genug, dass sie ohne seine Erlaubnis Hayley Mallins aufgesucht hatte, aber ihre letzte Eskapade, alleine loszugehen, um irgendeine Frau zu befragen, die aller Wahrscheinlichkeit nach nur eine halluzinierende Säuferin war, das war nun wirklich die Krönung. Wo war ihr gesunder Menschenverstand geblieben? Sie hätte ermordet werden können, Herrgott noch mal. Hatte er ihr nicht gesagt, sie solle sich beim Zimmerservice etwas zu essen bestellen, ein heißes Bad nehmen und früh schlafen gehen? »Ich hab es versucht«, verteidigt sie sich matt, trinkt ihren Wein aus, setzt sich auf
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