Tanz, Pueppchen, Tanz
Amanda, ich weiß nicht. Aber der Tag ist soeben sehr viel interessanter geworden.
Es ist fast vier, als Amanda nach einer 35-minütigen Taxifahrt bei der in dem Sparbuch angegebenen Adresse eintrifft. »Wo zum Teufel sind wir?«, fragt sie den Fahrer, während sie feststellt, dass der Betrag auf der Uhr mit 14,75 $ das Guthaben auf dem Sparbuch ihrer Mutter um sieben Dollar übertrifft. Sie zieht einen Zwanzig-Dollar-Schein aus dem Portemonnaie und hält ihn dem Fahrer über die Lehne des Vordersitzes hin. Der Ausflug erweist sich als kostspielig.
»North York«, erwidert der Mann mit einem starken osteuropäischen Akzent.
Warum hatte ihre Mutter eine Filiale am anderen Ende der Stadt gewählt, wenn es überall in Toronto eine Dominion-Bank gab?
»Müssen beeilen«, rät ihr der Mann. »Bank schließt in zwei Minuten.«
Scheiße, denkt Amanda, sieht mehrere Menschen das Gebäude verlassen und fragt sich, ob man sie überhaupt noch hineinlassen wird. »Stimmt so«, erklärt sie dem Taxifahrer, reißt die Tür auf und hastet zum Eingang der Bank, wo sich eine Bankangestellte mit einem schweren Schlüsselbund anschickt, die Filiale für heute zu schließen.
»Ich beeil mich«, erklärt sie der schlanken jungen Frau, deren Helm aus schwarzem lockigem Haar sie gut fünf Zentimeter größer macht.
»Lassen Sie sich Zeit«, erwidert die Frau mit einem weichen jamaikanischen Akzent und schließt die Tür hinter sich ab.
Amanda sieht sich rasch um und überlegt, was sie als Nächstes tun soll. Erleichtert stellt sie fest, dass sich noch ein halbes Dutzend weiterer Kunden in der Schalterhalle der großen und relativ modernen Bank aufhält. Vielleicht erweist sich die Tatsache, dass es kurz vor Feierabend ist, als vorteilhaft. Die Kassierer sind mit dem Kassenschluss beschäftigt und deshalb weniger geneigt, eine Fremde zu beachten oder sich die Unterschrift genauer anzusehen, mit der sie sich Zutritt zu dem Schließfach in dem Tresorraum am anderen Ende der Schalterhalle verschaffen will. Nicht dass es ihr unmöglich wäre, die Angestellten zu täuschen. Jahrelange Fälschung der Unterschrift ihrer Mutter auf Schulzeugnissen hat sie gewissermaßen zur Expertin gemacht.
Jetzt fälschst du also die Unterschrift deiner Mutter, um an ein Bankschließfach heranzukommen, hört sie Ben missbilligend flüstern. Du weißt, dass man dir dafür die Zulassung entziehen könnte.
Amanda streift ihre neuen schwarzen Lederhandschuhe ab und bemerkt das nervöse Zittern ihrer Hände, als sie an den Kassieren vorbei die malvenfarbige Rückwand ansteuert. »Ich muss an mein Schließfach«, erklärt sie einer Frau, die auf der anderen Seite des Tresens einen Packen Überweisungen durchblättert.
»Sofort«, sagt die Frau, ohne aufzublicken.
Gut, denkt Amanda, die Haltung gefällt mir. Kein Lächeln und keine Fragen, wie es mir geht. Keine Wünsche für einen guten Tag. Beweg dich einfach hier rüber, als ob du mir einen Riesengefallen tun würdest, indem du dich überhaupt mit mir abgibst, und dann lass mich das verdammte Schließfach sehen.
Die Frau seufzt offensichtlich frustriert und fährt sich mit der Hand durch ihr kurzes braunes Haar. »Das stimmt doch alles nicht«, murmelt sie ärgerlich.
Das Gefühl kenne ich, denkt Amanda mitfühlend, verlagert ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und fühlt sich in ihrem Parka warm und wohlig. Neben ihr erhebt sich wütend eine Stimme, und sie wendet den Kopf.
»Was soll das heißen, Sie können den Scheck nicht einlösen?«, fragt eine empörte Kundin.
»Es ist ein Scheck einer anderen Bank, Mrs. Newton«, erklärt der Kassierer. »Er wird nach Verifizierung auf Ihr Konto gutgeschrieben. Ich fürchte, so sind die Bestimmungen.«
»Ich bin seit mehr als dreißig Jahren Kundin bei dieser Bank. Da waren Sie noch gar nicht geboren.«
»Ja, und es tut mir auch Leid, aber …«
»Ich möchte den Direktor sprechen.«
Amanda starrt auf die sich kreuzenden feuchten Spuren auf dem dunklen Schieferboden. So lange ist auch meine Mutter schon Kundin dieser Bank, denkt sie und kämpft gegen den Impuls an, die Flucht zu ergreifen. Ich kann vielleicht ihre Unterschrift fälschen, aber nie im Leben überzeuge ich irgendjemanden, dass ich Gwen Price bin. Was, wenn eine Angestellte meine Mutter über ein flüchtiges Hallo hinaus kennt? Was, wenn irgendjemand die Zeitungsberichte über den Mord verfolgt hat und bei der Erwähnung des Namens aufhorcht? Man wird sie als Betrügerin entlarven.
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