Tanz, Pueppchen, Tanz
unter M wie Mallins. Nicht unter T wie Turk. Corinne Nash ist allerdings sowohl unter C wie unter TV aufgelistet. Spontan schlägt sie den Buchstaben A auf und hält die Luft an, als sie über einer ganze Doppelseite den Namen AMANDA liest, AMA auf der einen, NDA auf der anderen Seite. Unter den beiden Hälften ihres Namens findet sich eine Liste aller ihrer Telefonnummern seit ihrem Auszug, als ob ihre Mutter sie von Stadt zu Stadt und Mann zu Mann verfolgt hätte, bis hin zu ihrer aktuellen Privat- und Büronummer, obwohl sie sie unter keiner der Nummern je angerufen hat. Amanda schnalzt mit der Zunge, wirft das Adressbuch wieder in die Schublade und will sie gerade schließen, als ihr der Gedanke kommt, den Inhalt des großen Umschlags zu begutachten.
»Reine Zeitverschwendung«, sagt sie sich, als ihr einfällt, dass Ben all diese Schubladen bereits ergebnislos durchsucht hat. Aber das war, bevor sie mit Rachel Mallins gesprochen, von einem Mann namens Turk gehört und von dem rätselhaften Obduktionsbericht erfahren hatten. Es ist durchaus möglich, dass Ben etwas übersehen hatte, weil er nicht wusste, wonach er suchte. Sie öffnet den Umschlag und hält ihn seitlich, um die Dokumente darin genauer betrachten zu können.
Zeugnisse, erkennt sie, setzt sich auf die Bank an der Wand in der kleinen Frühstücksnische und breitet die Bögen auf der lameliierten Tischplatte aus. PALMERSON PUBLIC HIGH SCHOOL. Name: Amanda Price. Benotungsschlüssel: A= sehr gut, B= gut, C= befriedigend, D= mangelhaft, N= nicht bewertet. Und dann die Liste der Noten. As in Lesen, Aufsatz, Handschrift, Rechtschreibung und Rechnen. As für Sozialverhalten und Fleiß, aber nur Cs für die Teilnahme am Unterricht.
Amanda ist eine stille und gewissenhafte Schülerin, und es ist stets eine Freude, sie in der Klasse zu haben. In diesem Schuljahr hat sie erneut herausragende schriftliche Arbeiten abgeliefert, ihre Geschichten sind phantasievoll und gut erzählt. Ich wünschte allerdings, dass sie sich im Unterricht häufiger zu Wort melden würde.
Ich bin sehr erfreut über Amandas Fortschritte. Sie erledigt ihre Hausaufgaben immer pünktlich, ihre Referate sind stets sorgfältig, obwohl sie ihre Texte Korrektur lesen sollte, um unnötige Fehler zu vermeiden. Im Unterricht ist sie sehr still, scheint sich jedoch mit den anderen Kindern gut zu verstehen.
Amanda ist ein ruhiges, angenehmes, fleißiges Mädchen, und ich freue mich sehr, sie in meiner fünften Klasse zu haben. Ihr Projekt über Japan war sehr gut recherchiert und interessant präsentiert.
»Ach, was soll’s?«, fragt Amanda laut und überfliegt die scheinbar endlose Folge von Zeugnissen von der Vorschule an aufwärts. »Sie hat sie alle aufbewahrt? Nein, natürlich nicht«, beantwortet sie sich ihre eigene Frage. »Es war mein Vater, der sie aufbewahrt hat. Sie ist bloß nicht dazu gekommen, sie wegzuwerfen.«
Ich war wieder einmal der Mühe einfach nicht wert, denkt sie, überfliegt die weiteren Zeugnisse und bemerkt den besorgten Ton, der sich ab der Junior High School in die Kommentare ihrer Lehrer mischt – Auch wenn ihre Noten gut sind, macht mir Amandas Haltung ein wenig Sorgen – und ab der High School in unverhohlene Ungeduld umschlägt. Eine bessere Arbeitshaltung würde Amanda gut tun. Sie zieht es vor, sich auf ihr natürliches Talent zu verlassen, und es mangelt ihr an Disziplin. Außerdem nimmt sie nur unregelmäßig am Unterricht teil.
»Ich hab bestanden, oder nicht?«, fragt Amanda, klappt die Mappe zu, springt auf und wirft den ganzen Packen in den Mülleimer unter dem Waschbecken. »Am Ende habe ich trotzdem Jura studiert, oder nicht? Und hatte fast perfekte Ergebnisse bei der Aufnahmeprüfung. Ha!« Was zum Teufel mache ich, fragt sie sich, holt die Zeugnisse schnell wieder aus dem Mülleimer und befreit sie von welken Salatresten, bevor sie sie wieder in den Umschlag schiebt, den sie an seinen angestammten Platz zurücklegt. Ich werde verrückt, das mache ich. Und warum auch nicht? »Liegt in der Familie«, verkündet sie dem leeren Haus. Sie kehrt in den Flur zurück, wirft ihre Handtasche über eine Schulter, die Reisetasche über die andere und schleppt sie mit ächzenden Muskeln einen Fuß vor den anderen setzend die Treppe hinauf wie auf einen steilen Berg. Vielleicht sollte sie einfach wieder ins Bett gehen, denkt sie, plötzlich von Müdigkeit überwältigt.
Vielleicht habe ich mir irgendwas eingefangen, überlegt sie, möglicherweise im
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